Traumschlange
daß er so wenig zu zaubern vermochte wie Schlange, obwohl ihre Fähigkeiten bisweilen Wunder zu wirken schienen, aber er fürchtete sich davor, sich Schlanges Tod vorzustellen. Wahrscheinlich befand sie sich in Sicherheit in der Stadt im Berg und eignete sich neues Wissen an, das den Schaden ausgleichen sollte, den Arevins Verwandter angerichtet hatte. Arevin fand, daß Stavins jüngerer Vater Glück hatte, weil er nicht selbst für sein Versagen und die Folgen einstehen mußte. Es war sein Glück und Schlanges Unglück. Arevin wünschte, er könnte ihr eine erfreuliche Neuigkeit berichten, wenn er sie fand; aber er hatte nur zu sagen: ›Ich habe es zu erklären versucht, ich habe deinen Leuten die Furcht meines Volkes vor Schlangen begreiflich zu machen versucht. Aber sie gaben mir keine Antwort. Sie möchten mit dir sprechen. Sie wünschen, daß du heimkehrst.‹
Am Rand einer Wiese ließ er sein Pferd halten, weil er etwas zu hören glaubte. Die Stille ringsum besaß eine eigene Art von Gegenwärtigkeit, fein von der Stille einer Wüste verschieden. Hatte er nun auch schon begonnen, sich Geräusche einzubilden, fragte er sich, so wie er sich in der Nacht Schlanges Berührung einbildete? Doch dann vernahm er aus den voraus gelegenen Bäumen erneut das dumpfe Trommeln von Tierhufen.
Eine kleine Herde zierlichen Bergwilds erschien, trottete über die Lichtung auf ihn zu; die reisigdünnen Beine leuchteten weiß, lange biegsame Hälse reckten sich empor. Im Vergleich zu den schweren, riesigen Moschusochsen, die Arevins Stamm in Herden hielt, war dieses zierliche Wild wie Spielzeuggetier. Es bewegte sich nahezu lautlos; die Pferde der Treiber waren es gewesen, deren Hufschlag seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sein Pferd, das seinesgleichen lange nicht gesehen hatte, wieherte laut.
Die Treiber winkten und lenkten ihre Pferde im Handgalopp herüber, brachten sie mit feurigem Schwung zum Stehen. Sie waren beide noch jung, besaßen von der Sonne bronzebraune Haut und blondes, kurzgeschnittenes Haar, und ihrem Aussehen zufolge mußten sie Verwandte sein. In Berghausen hatte sich Arevin mit seiner Wüstenrobe fehl am Platze gefühlt, aber hauptsächlich, weil man ihn wegen dieses Kleidungsstücks mit dem Verrückten verwechselte. Nachdem er das Mißverständnis geklärt hatte, sah er keinen Grund, um sich etwas anderes anzuziehen. Nun jedoch blickten diese beiden jungen Leute einander an, sobald sie ihn einen Moment lang gemustert hatten, und grinsten. Er begann sich zu fragen, ob es besser gewesen wäre, neue Kleider zu kaufen. Aber er besaß wenig Geld und wollte es daher nur für unbedingt Notwendiges ausgeben.
»Du bist weit abseits der Handelsstraßen«, wandte sich der ältere Treiber an ihn. Er sprach in nüchternem Tonfall, ohne hörbaren Argwohn. »Brauchst du Hilfe?«
»Nein«, sagte Arevin. »Ich danke für die Nachfrage.«
Die Herde begann die drei Reiter zu umwimmeln, und die Tiere verständigten sich untereinander mit leisen, hellen Lauten, mehr wie Vögel als Huftiere. Die jüngere Treiberin stieß einen lauten Schrei aus und ruderte mit den Armen. Die Herde zerstreute sich nach allen Seiten. Noch ein Unterschied zwischen dieser Herde und jener, die Arevin unterhielt: Ein Moschusochse hätte sich angesichts eines Menschen, der auf einem Pferderücken schreit und fuchtelt, nur gemächlich umgeschaut, um zu sehen, was denn so lustig sei.
»Meine Güte, Jean, du wirst alles von hier bis Berghausen verscheuchen.«
Aber anscheinend machten die beiden sich keine Sorge um das Wild, und tatsächlich fand sich die Herde in einiger Entfernung wieder zu einem geschlossenen Haufen zusammen. Erneut bestürzte Arevin die Tatsache, wie bereitwillig man in diesem Land einander die Namen verriet, aber es war wohl empfehlenswert, sich einfach daran zu gewöhnen.
»Mit diesen Tieren an den Fersen kann man sich nicht richtig unterhalten«, sagte die Treiberin und lächelte Arevin an. »Es ist eine Freude, wieder einmal ein anderes menschliches Gesicht zu sehen, nachdem ich lange nichts gesehen habe als Wild und Bäume. Und meinen Bruder.«
»Dann habt ihr also sonst niemandem auf diesem Pfad angetroffen?« Arevin verstand seine Äußerung mehr als Feststellung, weniger als Frage. Wäre Schlange auf dem Rückweg vom Zentrum. gewesen und von den Treibern überholt worden, so hätten die drei den Weg sinnvollerweise zusammen fortgesetzt.
»Warum? Suchst du jemanden?« Die Stimme des jungen Mannes verriet nun
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