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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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verkrüppelt«, sagte Jesse unvermittelt. »Was deine Arbeit angeht, bist du so verkrüppelt wie ich.«
    Jesses Großmut, der sich in diesem Vergleich ausdrückte, machte Schlange verlegen. Jesse befand sich in einer echten Notlage, war hilflos, ihre einzige Chance der Besserung schien so klein, daß Schlange angesichts ihres frischen Mutes und erneuerten Lebenswillens Ehrfurcht verspürte.
    »Ich danke dir dafür, daß du das gesagt hast.«
    »Ich trete den Heimweg zu meiner Familie an, um ihre Hilfe zu erbitten... und du warst ebenfalls auf dem Heimweg?«
    »Ja.«
    »Du wirst eine andere Schlange erhalten«, sagte Jesse im Tonfall der Gewißheit.
    »Ich hoffe es.«
    »Gibt es daran einen Zweifel?«
    »Traumschlangen brüten unzuverlässig«, sagte Schlange. »Wir wissen zu wenig über sie. Alle paar Jahre schlüpfen ein paar aus, oder jemand von uns kann einige klonen, aber...« Schlange zuckte mit den Achseln.
    »Dann fang dir eine.«
    Auf diesen Gedanken war Schlange noch nie gekommen, weil sie wußte, es war unmöglich. Sie hatte niemals eine andere Möglichkeit in Erwägung gezogen als die Rückkehr zur Niederlassung der Heiler, wo sie ihre Lehrmeister um Vergebung bitten mußte. Sie lächelte traurig.
    »So groß ist mein Wirkungskreis nicht. Sie stammen nicht von hier.«
    »Woher denn?«
    Schlange hob erneut die Schultern. »Von einer anderen Welt...« Ihre Stimme sank herab, als sie bemerkte, was sie da sprach.
    »Dann wirst du mit mir in die Stadt kommen«, sagte Jesse. »Wenn ich meine Familie auf suche, wird man dich den Fremdweltlern vorstellen.«
    »Jesse, wir haben das Zentrum jahrzehntelang um Unterstützung ersucht. Man wird vielleicht nicht einmal mit uns reden.«
    »Aber nun steht eine Familie der Stadt in deiner Schuld. Ob meine Verwandten mich noch anerkennen werden, weiß ich nicht. Aber nichtsdestotrotz sind sie dir verpflichtet, weil du mir geholfen hast.«
    Stumm lauschte Schlange, überwältigt von den Möglichkeiten, die diese Worte verhießen.
    »Glaube mir, Heilerin«, sagte Jesse, »wir können uns gegenseitig helfen. Wenn sie mich aufnehmen, gilt das auch für meine Freunde. Wenn nicht, so müssen sie trotzdem ihre Schuld bei dir begleichen. Jeder von uns kann allein beide Anliegen vortragen.«
    Schlange war eine stolze Frau, stolz auf ihre Ausbildung, ihre Fähigkeiten, ihren Namen. Die Aussicht, Gras‘ Tod auf andere Weise als durch das Erflehen von Vergebung ausgleichen zu können, übte auf sie beträchtliche Faszination aus. Einmal in jedem Jahrzehnt begab sich ein älterer Heiler auf den langen Weg zur Stadt, um dort um Auffrischung ihrer Traumschlangenzucht zu bitten. Bisher waren sie alle abgewiesen worden. Sollte jedoch Schlange Erfolg haben...
    »Kann uns das gelingen?«
    »Meine Familie wird uns helfen«, sagte Jesse. »Ob sie allerdings die Fremdweltler dazu veranlassen kann, uns, ebenfalls beizustehen, das weiß ich nicht.«
     
    Während des heißen Nachmittags konnten Schlange und die Dreierschaft nichts tun als warten. Schlange beschloß, Dunst und Sand, ehe die weite Reise begann, ein wenig aus der Schachtel zu lassen. Als sie das Zelt verließ, blieb sie an Jesses Seite stehen. Die schöne Frau lag in friedlichem Schlaf, aber ihr Gesicht war gerötet. Schlange befühlte ihre Stirn. Vielleicht hatte Jesse schwaches Fieber; vielleicht lag es auch nur an der Hitze des Tages. Schlange war noch immer der Auffassung, daß Jesse keine ernsten inneren Verletzungen erlitten hatte, aber innere Blutungen waren nicht ausgeschlossen, und möglicherweise entstand eine Bauchfellentzündung. Doch so etwas konnte Schlange heilen. Sie entschied, Jesse jetzt nicht zu stören, sondern abzuwarten, ob sich ihre Temperatur erhöhte.
    Sie entfernte sich vom Lager, um abseits eine Stelle ausfindig zu machen, wo ihre Schlangen niemanden erschrecken konnten. Unterwegs kam sie an Alex vorüber, der mürrisch in die Ferne starrte. Sie zögerte, und er blickte mit kummervoller Miene auf. Wortlos setzte sich Schlange neben ihn. Er wandte sich ihr zu und musterte sie mit seinem eindringlichen Blick; sein Gram hatte die Gutmütigkeit aus seinem Gesicht verdrängt und nur seine Häßlichkeit belassen, zu der sich nun Finsterkeit gesellte.
    »Wir waren es, die sie verkrüppelt haben, nicht wahr? Merideth und ich.«
    »Sie verkrüppelt? Nein, natürlich nicht.«
    »Wir hätten sie nicht bewegen dürfen. Ich hätte daran denken müssen. Wir hätten das Lager zu ihr verlegen sollen. Vielleicht waren die

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