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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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die Bürste behutsam aus der Hand.
    »Weißt du, es ist so, Herrin...«
    »Ich heiße Schlange.«
    »Das ist nichts für dich. Du kannst heilen, ich kann Pferde bürsten.«
    Schlange lächelte. Das kleine Mädchen war höchstens neun oder zehn Jahre alt, schmächtig und mager. Es hatte nicht zu Schlange aufgeschaut; nun bürstete es Winds auf gerauhte Flanke wieder glatt, den Kopf gesenkt, sehr nahe am Fell der Stute. Es hatte rotes Haar und schmutzige, abgekaute Fingernägel.
    »Du hast recht«, sagte Schlange. »Du kannst das wirklich besser als ich.«
    Einen Moment lang schwieg das Kind.
    »Du hast mich reingelegt«, sagte es dann verdrossen, ohne sich umzudrehen.
    »Ein bißchen, ja«, gab Schlange zu. »Aber das mußte ich wohl, sonst hättest du mich dir nicht persönlich danken lassen, was?«
    Das Kind fuhr herum und blickte auf.
    »Dann danke mir«, schrie es. Die linke Gesichtshälfte war von einer schrecklichen Narbe verunstaltet. Verbrennung dritten Grades, dachte Schlange. Armes Kind! Und dann dachte sie: Wäre ein Heiler zur Stelle gewesen, hätte die Narbe sich nicht so schlimm entwickelt. Gleichzeitig bemerkte sie den Bluterguß an der rechten Gesichtsseite des kleinen Mädchens. Schlange kniete nieder, aber das Kind wich vor jeder Berührung zurück und wandte sich zur Seite, um die Narbe zu verbergen. Behutsam berührte Schlange den Bluterguß.
    »Ich habe den Stallmeister heute morgen jemanden anschreien hören«, sagte Schlange. »Das warst du, nicht wahr? Er hat dich geschlagen.«
    Das Kind drehte sich ihr wieder zu und hob den Blick, das rechte Auge weit, wogegen das linke Auge teilweise durch Narbengewebe verschlossen war.
    »Ich habe nichts«, sagte das Mädchen. Dann entzog es sich Schlanges Händen und klomm über eine Leiter hinauf ins Dunkle.
    »Bitte, komm wieder herunter«, rief Schlange.
    Aber das Kind war verschwunden, und obwohl Schlange ihm diesmal auf den Dachboden folgte, konnte sie es nirgendwo aufspüren. Während sie den Pfad zum Haus des Bürgermeisters hinaufstieg, huschte Schlanges Schatten im Schwanken der Laterne hin und her, die sie bei sich trug. Sie dachte an das namenlose Mädchen, das sich geschämt hatte, in das Licht zu treten. Der Bluterguß saß an einer üblen Stelle, genau an der Schläfe. Aber das Mädchen war unter Schlanges Berührung nicht zurückgefahren – wenigstens nicht bei der Berührung des Blutergusses –‚ und es wies auch keine Symptome einer Gehirnerschütterung auf. Schlange brauchte sich um das gegenwärtige Befinden des Kindes nicht zu sorgen. Aber wie stand es damit in der Zukunft?
    Schlange wünschte, irgendwie helfen zu können, aber ihr war klar, daß das kleine Mädchen, falls sie für eine Bestrafung des Stallmeisters sorgte, die Folgen tragen müßte, sobald sie fort war.
     
    Schlange erstieg die Treppen zu den Gemächern des Bürgermeisters. Brian wirkte erschöpft, der Bürgermeister dagegen aufgemöbelt. Die Schwellung seines Beins war im wesentlichen abgeklungen. Die Löcher der Bißwunden waren vernarbt, aber Brian gewährleistete zuverlässig, daß die Hauptwunde offen und sauber blieb.
    »Wann kann ich aufstehen?« erkundigte sich der Bürgermeister. »Ich habe Arbeit. Muß mich mit Leuten beraten. Streitfälle schlichten.«
    »Sie können jederzeit aufstehen«, sagte Schlange, »wenn es Ihnen nichts ausmacht, danach dreimal so lange im Bett zu liegen.«
    »Ich bestehe darauf, daß...«
    »Bleiben Sie im Bett«, sagte Schlange überdrüssig. Sie wußte, er würde gehorchen. Wie üblich begleitete Brian sie hinaus.
    »Sollte die Wunde im Laufe der Nacht bluten, dann hole mich.«
    Die Wunde würde bestimmt bluten, falls der Bürgermeister aufstand, und sie wollte nicht, daß der alte Diener sich allein mit der Verletzung befassen mußte.
    »Ist er wohlauf? Wird er genesen?«
    »Ja, wenn er sich nicht zu stark beansprucht. Die Gesundung macht einigermaßen gute Fortschritte.«
    »Danke, Heilerin.«
    »Wo ist Gabriel?«
    »Er kommt nicht länger herauf.«
    »Brian, was ist zwischen ihm und seinem Vater?«
    »Ich bedaure, Heilerin, aber das kann ich auch nicht sagen.«
    Du meinst, du willst es nicht, dachte Schlange.
     
    Schlange schaute über das dunkle Tal. Ihr war noch nicht nach Schlaf zumute. Dies war einer der Umstände, die ihr an ihrem Probejahr nicht besonders gefielen: meistens ging sie allein zu Bett. An den Orten, wohin sie bisher gelangt war, kannten zu viele Menschen Heiler nur nach ihrem Ruf und fürchteten sie.

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