Traumschlange
Sie verriet niemandem etwas. Sie trieb das Kind ab, ganz allein. Und sie war in ihrer Ausbildung noch längst nicht weit genug für so etwas. Fast wäre sie verblutet.«
»Du darfst zu dir selbst nicht eine Haltung einnehmen, als hättest du ihr diese Umstände aus Fahrlässigkeit bereitet«, sagte Schlange, obwohl sie einsah, daß einfache Worte zu billig waren, um Gabriel den Widerwillen gegen die eigene Person auszutreiben oder um ihn für die Art und Weise zu entschädigen, wie sein Vater ihn behandelte. Er hatte, war er nicht kurz zuvor untersucht worden, nicht um seine Zeugungsfähigkeit wissen können, und wenn man die entsprechende Technik der Biokontrolle erst einmal beherrschte, brauchte man sich normalerweise auch nicht länger darum zu sorgen. Schlange hatte schon von Leuten vernommen, die zur Biokontrolle unfähig waren, aber äußerst selten. Nur an einer Person, die dazu außerstande war, sich um einen anderen zu scheren, hätte das, was Gabriel durchgemacht hatte, ohne Spuren vorübergehen können; und Gabriel war ganz offensichtlich fähig zu starker Anteilnahme.
»Sie kam ohne nachhaltige Gesundheitsschäden davon«, sagte Gabriel. »Aber ich hatte für sie, was Vergnügen sein sollte, in einen Alptraum verwandelt. Leah... ich glaube, sie wünschte sich, mich wiederzusehen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Falls das einen Sinn ergibt.«
»Ja, doch«, sagte Schlange. Zwölf Jahre alt; vielleicht war das Leahs erste Einsicht in die Tatsache gewesen, daß andere Menschen ihr Leben beeinflussen konnten, ohne daß sie selbst auf diesen Einfluß einwirkte oder überhaupt davon wußte; keine Lektion, die ein Kind bereitwillig oder leicht lernte.
»Sie möchte Glasformerin werden, und es bestand derzeitig bereits eine Absprache, daß sie Assistentin bei der Ashley werden solle.«
Vor Staunen stieß Schlange einen gedämpften Pfiff aus. Glasformerei war ein Gewerbe, das hohe Anforderungen stellte, aber auch hohe Achtung genoß. Nur die besten in diesem Beruf vermochten Solarzellenspiegel zu bauen; man benötigte viel Zeit, um die Herstellung selbst nur leicht gewölbter Scheiben zu erlernen, oder runder Scheiben wie jene in den Türmen des Gebäudes. Ashley war nicht eine der besten; sie war die beste.
»Mußte Leah darauf verzichten?«
»Ja. Es hätte für immer sein können. Doch sie ging dann im nächsten Jahr hin. Aber inzwischen verfloß ein Jahr ihres Lebens.«
Er sprach langsam und sorgfältig, aber ohne Gefühlsaufwallung, als habe er seine Worte im Kopf schon so häufig geübt, daß er einen gewissen Abstand zwischen sich und der Erinnerung erzwungen hatte.
»Natürlich wandte ich mich an meinen Lehrer, aber als man meine Reaktionen über einen längeren Zeitraum hinweg aufzeichnete, stellte man fest, daß ich die Temperaturabweichung nur für ein paar Stunden hintereinander erhalten konnte. Nicht lange genug.«
»Tscha«, machte Schlange nachdenklich. Sie überlegte, wie gut Gabriels Lehrer wohl wirklich gewesen sein mochte. Gabriel rückte von ihr ab, so daß er ihr ins Gesicht sehen konnte.
»Und deshalb kann ich diese Nacht nicht mit dir verbringen, das verstehst du nun sicherlich.«
»Das kannst du durchaus. Bitte tu es. Wir sind beide einsam, und wir vermögen einander zu helfen.«
Er schnappte nach Luft und stand mit einem Ruck auf.
»Aber begreifst du denn nicht«, rief er, »daß...«
»Gabriel.«
Er setzte sich langsam wieder, berührte sie jedoch nicht.
»Ich bin nicht zwölf Jahre alt. Du brauchst nicht zu befürchten, daß du mir ein unerwünschtes Kind machst. Heiler haben niemals Kinder. Die Verantwortung dafür übernehmen wir selbst, weil wir es uns nicht leisten dürfen, sie mit unseren Gefährten zu teilen.«
»Ihr bekommt niemals Kinder?«
»Niemals. Frauen tragen keine im Leibe, Männer zeugen keine.« Er starrte sie an. »Glaubst du mir?«
»Du willst mich tatsächlich noch immer, obwohl du jetzt weißt...?«
Zur Antwort erhob sich Schlange und begann ihr Kleid aufzuknöpfen. Da es noch so neu war, machten die Knopflöcher wegen ihrer Steifheit Schwierigkeiten, und so streifte sie sich das Kleid schließlich über den Kopf vom Körper und ließ es auf den Fußboden fallen. Langsam richtete sich Gabriel auf und betrachtete sie schüchtern. Schlange knöpfte ihm das Hemd auf, als er seine Arme nach ihr ausstreckte, und dann die Hose. Er errötete, als seine Hosen über seine schmalen Hüften abwärts rutschten.
»Was ist?«
»Seit ich fünfzehn
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