Traumschlange
Glück, dachte sie, daß er nicht auch noch Tetanus erwischt hat. Sie dachte an Ao und die anderen Sammler. Gelegentlich kamen Heiler durch Berghausen, in der Vergangenheit allerdings regelmäßiger als heutzutage. Vielleicht hätte der Bürgermeister, sobald er sah, daß er es nicht mit einer Schlange zu tun bekam, sich früher einmal impfen lassen. Schlange löste Sand von ihrem Arm, hielt ihn hinter seinen Kieferwölbungen und ließ ihn mit der Zunge die verfärbte Haut abtasten.
Er rollte sich auf dem Bett zu einem dicken Knäuel zusammen. Als Schlange mit seiner Bißhaltung zufrieden war, ließ sie seinen Kopf los. Er stieß zu. Der Bürgermeister schrie auf. Sand biß nur einmal und sehr schnell zu, und er zog sich so blitzartig zurück, daß ein Beobachter nicht sicher sein konnte, ob er sich überhaupt geregt hatte. Der Bürgermeister war sich dessen allerdings ganz sicher.
Er hatte wieder und diesmal noch heftiger zu zittern begonnen. Aus den zwei winzigen Punktwunden quollen dunkles Blut und Eiter. Der Rest von Schlanges Arbeit war scheußlich, und es stank ekelhaft, aber es handelte sich nur noch um Routine. Sie öffnete die Wunde und ließ sie ausfließen. Schlange hoffte, daß Gabriel kein zu reichliches Abendessen eingenommen hatte, denn er machte den Eindruck, als wolle er es wieder von sich geben, trotz des in Schnaps getränkten Tuchs vor seinem Gesicht. Brian stand in unerschütterlicher Ruhe neben der Schulter seines Herrn, besänftigte ihn und hielt ihn still. Als Schlange fertig war, hatte sich die Schwellung des Beins bereits merklich zurückgebildet. In ein paar Wochen würde der Bürgermeister wieder kerngesund sein.
»Brian, komm einmal her und sieh‘s dir an, ja?«
Der Alte zögerte etwas, aber er wirkte erleichtert, als er sah, was sie bewerkstelligt hatte.
»Es sieht besser aus«, sagte er. »Es sieht jetzt schon besser aus als zu dem Zeitpunkt, da ich es zum letzten Mal anschauen durfte.«
»Gut. Die Wunde wird noch eine Zeitlang Feuchtigkeit absondern, deshalb muß man sie sauberhalten.«
Sie zeigte ihm, wie man die Wunde abdecken und verbinden mußte. Er rief einen jüngeren Diener und ließ ihn die besudelten Tücher fortschaffen, und bald hatte sich der Gestank der Entzündung und des brandigen Fleisches verflüchtigt. Gabriel saß auf der Bettkante und betupfte seinem Vater die Stirn. Irgendwann war ihm das schnapsfeuchte Tuch vom Gesicht auf den Boden gerutscht, aber er hatte es nicht aufgehoben. Er sah nicht länger so blaß aus. Schlange nahm Sand und ließ ihn auf ihre Schulter gleiten.
»Sollte die Wunde stark schmerzen, seine Temperatur wieder steigen, sich überhaupt irgend etwas ergeben, das mit einer Besserung nichts zu schaffen hat, dann verständigt mich. Andernfalls untersuche ich ihn erst wieder morgen früh.«
»Danke, Heilerin«, sagte Brian.
Schlange zögerte, als sie an Gabriel vorbeiging, aber er schaute nicht auf. Sein Vater lag sehr still und atmete schwer, entweder schon in tiefem Schlaf oder doch fast eingeschlafen. Schlange zuckte mit den Achseln und verließ den Turm, welchen der Bürgermeister bewohnte; sie kehrte zurück in ihr Zimmer, setzte Sand in sein Fach, begab sich dann nach unten und suchte, bis sie die Küche fand. Ein anderer der vielen und vielseitigen Diener des Bürgermeisters bereitete ihr ein Abendessen, und danach legte sie sich ins Bett.
6
Am Morgen fühlte der Bürgermeister sich wesentlich wohler. Brian hatte offensichtlich die ganze Nacht hindurch an seinem Bett Wache gehalten, aber er führte alle Befehle unverzüglich aus – nicht unbedingt frohsinnig, denn das war ohnehin nicht Brians Art, aber auch ohne Zurückhaltung oder Widerwillen.
»Wird eine Narbe zurückbleiben?« erkundigte sich der Bürgermeister.
»Ja, natürlich«, antwortete Schlange verblüfft. »Mehrere. Ich habe jede Menge tote Muskulatur entfernt, und alles wird gewiß nicht nachwachsen. Aber wahrscheinlich werden Sie nicht hinken müssen.«
»Brian, wo ist mein Tee?« Der Tonfall des Bürgermeisters zeugte deutlich von seinem Mißmut über Schlanges Auskunft.
»Schon unterwegs, Herr.« Kräuterduft breitete sich im Schlafzimmer aus. Der Bürgermeister trank seinen Tee allein. Er mißachtete Schlange, während sie den Verband an seinem Bein erneuerte. Als sie mit finsterer Miene ging, folgte Brian ihr hinaus.
»Heilerin, vergib ihm. Er ist es nicht gewöhnt, krank zu sein. Er erwartet, daß alles nach seinem Willen verläuft.«
»Das habe ich
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