Traumschlange
Selbst Arevin hatte anfänglich Furcht vor ihr, und als diese Furcht wich und ihr gegenseitiger Respekt sich in Zuneigung verwandelte, da mußte Schlange fort. Sie hatten keine Gelegenheit gehabt, sich näher kennenzulernen.
Sie lehnte ihre Stirn an das kühle Glas. Als Schlange zum ersten Mal die Wüste durchquerte, geschah es, um zu erkunden, um die Gegenden zu sehen, wo jahrzehntelang kein Heiler gewesen war, oder wo sich noch nie einer aufgehalten hatte. Es war anmaßend von ihr gewesen, vielleicht ganz einfach töricht, etwas in Angriff zu nehmen, worauf ihre Lehrer längst verzichteten, das sie nicht einmal länger in Erwägung zogen. Die Zahl der Heiler war schon für diese Seite der Wüste nicht groß genug. Falls Schlange mit ihrem Besuch in der Stadt Erfolg hatte, mochte das alles sich ändern. Aber den einzigen Unterschied zwischen Schlange und den übrigen Heilern, die das Zentrum schon um Unterstützung ersucht hatten, machte der Name Jesse aus. Wenn sie scheiterte... ihre Lehrmeister waren gute Menschen, sie tolerierten Eigensinn und ausgefallene Ideen, aber wie sie auf die Fehler reagieren mochten, die Schlange begangen hatte, das wußte sie nicht.
Das Klopfen an ihrer Tür war eine willkommene Ablenkung, da es ihre Gedanken unterbrach.
»Herein.«
Gabriel trat ein, und erneut verschlug seine Schönheit ihr den Atem.
»Brian sagt, daß es meinem Vater gut geht.«
»Recht anständig.«
»Meinen Dank für die Hilfe, die du ihm gewährt hast. Ich weiß, er kann schwierig sein.« Er zögerte, schaute umher und zuckte mit den Achseln. »Tja... ich bin nur vorbeigekommen, um zu hören, ob ich noch irgend etwas für dich tun kann.«
Trotz der Belastung, welcher er unterlag, wirkte er sanftmütig und wohlgelaunt, und davon fühlte sich Schlange nicht weniger angezogen als von seiner äußerlichen Schönheit. Und sie war einsam. Sie beschloß, sein wohlerzogen geäußertes Angebot anzunehmen.
»Ja«, sagte sie. »Danke.«
Sie verharrte vor ihm, berührte seine Wange und führte ihn an der Hand zu einer Couch. Auf einem niedrigen Tisch am Fenster standen eine Flasche Wein und ein paar Gläser. Schlange bemerkte, wie Gabriel knallrot wurde. Zwar kannte sie nicht alle Bräuche und Sitten der Wüste, aber hier in den Bergen kannte sie sich aus; sie hatte ihre Privilegien eines Gastes nicht überschritten, und er hatte das Angebot unterbreitet. Sie trat vor Gabriel und ergriff seine Arme dicht oberhalb der Ellbogen. Nun war er plötzlich totenblaß.
»Gabriel, was ist los mit dir?«
»Ich... ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Ich habe nicht gemeint... Wenn du es möchtest, schicke ich dir jemanden...«
Sie runzelte die Stirn. »Wenn ›jemand‹ alles wäre, was ich wollte, hätte ich ihn mir in der Ortschaft mieten können. Ich wollte jemanden, den ich auch mag.«
Er sah sie an, ein flüchtiges, schwaches Lächeln dankbarer Freude auf den Lippen. Vielleicht hatte er, als er sich entschied, von seinem Vater zu gehen, den Entschluß gefaßt, sich den Bart auswachsen zu lassen, denn seine Wangen zeigten nun Ansätze von Haar.
»Danke dafür«, sagte er.
Sie führte ihn zur Couch, ließ ihn sich setzen und nahm neben ihm Platz.
»Was ist nicht in Ordnung?«
Er schüttelte seinen Kopf. Sein Haar fiel ihm in die Stirn und verbarg halb seine Augen.
»Gabriel, solltest du aus irgendeinem Grund noch nicht bemerkt haben, daß du schön bist?«
»Nein.« Er brachte ein grämliches Lächeln zustande. »Das weiß ich.«
»Muß ich‘s dir denn aus der Nase ziehen? Liegt es an mir? Die Götter wissen es
– mit den Bewohnerinnen Berghausens kann ich mich nun einmal leider nicht vergleichen. Oder wenn du Männer vorziehst... dafür hätte ich Verständnis.« Doch sie war noch nicht auf das gestoßen, was ihn vor ihr zurückschrecken ließ; bei nichts von alldem, was sie erwähnte, hatte er eine Reaktion gezeigt. »Bist du krank? Dann wäre ich doch die erste Person, der du dich anvertrauen könntest.«
»Ich bin nicht krank«, sagte er leise und ohne ihren Blick zu erwidern. »Und es liegt nicht an dir. Ich meine, wenn ich die Wahl hätte... Es ehrt mich, daß du mich so hoch einschätzt.« Schlange schwieg, bis er endlich weitersprach. »Es wäre nicht recht von mir zu bleiben. Ich könnte...«
»Es liegt an dem Hader zwischen dir und deinem Vater«, sagte Schlange, als er wieder verstummte. »Und deswegen willst du fort.«
Gabriel nickte. »Und er hat recht, wenn er wünscht, daß ich
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