Traumschlange
Mondscheins.
»Ich hatte gehofft, dich nicht wecken zu müssen...«
»Herrin, was ist geschehen? Du blutest ja ganz schrecklich!«
»Nein, es hat schon aufgehört. Ich hatte einen Kampf durchzustehen. Würdest du mich nach oben begleiten? Du kannst hinter mir aufsitzen und Wind dann allein hinunterreiten.«
Melissa ergriff beide Stränge eines Flaschenzugs und kletterte Hand über Hand herab.
»Ich mache alles, was du möchtest, Herrin«, sagte sie leise.
Schlange streckte ihr eine Hand entgegen, und Melissa nahm sie und schwang sich hinter Schlange auf das Pferd. In der Welt, soweit Schlange sie kannte, arbeiteten alle Kinder, aber die Hand der Zehnjährigen, die ihre ergriff, war so schwielig und rauh und grob wie die Faust eines ausgewachsenen Schwerarbeiters. Schlange preßte ihre Schenkel in Winds Flanken, und die Stute schlug den gewundenen Pfad zur Höhe der Klippe ein. Melissa hielt sich an der Hinterpausche des Sattels fest, eine anstrengende und unbequeme Art, das Gleichgewicht zu bewahren. Schlange langte rückwärts und schloß die Arme des Kindes um ihre Taille. Melissa war so steif und verschlossen wie Gabriel, und Schlange stellte sich die Frage, ob Melissa womöglich noch länger als Gabriel hatte warten müssen, bis irgend jemand sie mit Zuneigung berührte.
»Was ist denn geschehen?« erkundigte sich Melissa.
»Jemand wollte mich berauben.«
»Das ist ja gräßlich, Herrin. In Berghausen wird doch sonst niemals jemand beraubt.«
»Aber mich wollte jemand berauben. Er wollte mir meine Schlangen wegnehmen.«
»Das muß ein Verrückter gewesen sein«, meinte Melissa.
Die Erkenntnis packte Schlange mit kaltem Schauder am Rückgrat. »O ihr Götter«, sagte sie, und sie erinnerte sich an die Wüstenrobe, die der Angreifer getragen hatte, ein Kleidungsstück, das man in Berghausen selten sah. »Es war auch einer.«
»Was?«
»Ein Verrückter. Nein, es ist gar kein Verrückter. Ein Irrer würde mir nicht so weit folgen. Er hat‘s auf irgend etwas abgesehen, aber auf was? Ich besitze nichts, das ein anderer gebrauchen könnte. Niemand außer einem Heiler kann irgend etwas mit den Schlangen anfangen.«
»Vielleicht wollte er Wind, Herrin. Es ist ein gutes Pferd, und ich habe noch nie so schönes Zaumzeug gesehen.«
»Er hat schon meinen Lagerplatz verwüstet, bevor ich Wind bekam.«
»Dann ist es tatsächlich ein Verrückter«, sagte Melissa. »Kein Mensch würde eine Heilerin überfallen.«
»Ich wünschte, die Leute wären sich da weniger sicher«, sagte Schlange. »Wenn er mich nicht berauben will, was will er dann eigentlich von mir?«
Melissa umklammerte Schlanges Taille fester, und ihr Arm streifte den Griff von Schlanges Messer.
»Warum hast du ihn nicht kaltgemacht?« fragte Melissa. »Oder wenigstens anständig gestochen.«
Schlange berührte den glatten Griff aus Bein. »Ich habe überhaupt nicht daran gedacht«, antwortete sie. »Ich habe mein Messer noch nie gegen einen Menschen gebraucht.«
Insgeheim fragte sie sich, ob sie im äußersten Ernstfall wohl dazu imstande sei. Melissa schwieg. Wind erklomm die Klippe rasch. Die Hufe der Stute schleuderten Kieselsteine zur Seite und die kahle Steilwand der Klippe hinunter.
»Hat sich Eichhörnchen gut betragen?« fragte Schlange schließlich.
»Ja, Herrin. Er lahmt überhaupt kein bißchen.«
»Das ist prächtig.«
»Es ist lustig, auf ihm zu reiten. Ich habe noch nie so ein gestreiftes Pferd gesehen.«
»Ehe ich als Heilerin anerkannt werden konnte, mußte ich eine Leistung vorweisen, und deshalb sorgte ich dafür, daß Eichhörnchen Streifen bekam«, sagte Schlange. »Das betreffende Gen war vorher noch nie isoliert worden.«
Plötzlich erkannte sie, daß Melissa keine Ahnung haben konnte, wovon sie redete; sie fragte sich, ob der Kampf sie stärker mitgenommen habe, als sie annahm.
»Du hast Eichhörnchen gemacht?«
»Ich habe... eine Medizin gemacht, die bewirkte, daß er so zur Welt kam, wie er jetzt ist. Ich mußte ein Lebewesen verändern, ohne ihm ein Leid anzutun, damitman sah, daß ich gut genug bin, um auch bei den Schlangen Änderungen hervorzurufen. Auf diese Weise können wir mehr Krankheiten heilen.«
»Ich wollte, ich könnte auch irgend etwas leisten.«
»Melissa, du kannst Pferde reiten, denen ich nicht einmal nahetreten würde.« Melissa schwieg. »Was ist mit dir?«
»Ich wollte eigentlich auch Jockei werden.«
Sie war ein hageres, schmächtiges Kind, zweifellos geeignet, um jedes Tier zu
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