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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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ausgiebig und liebevoll waren sie gebürstet worden. Ras, der Stallmeister, war nirgends zu sehen. Schlange betrat Eichhörnchens Verschlag, um sein neues Hufeisen zu betrachten. Sie kratzte ihn an den Ohren und meinte laut zu ihm, er müsse sich damit üben, sonst würde er am Anfang zu häufig aus dem Tritt geraten. Oben auf dem Dachboden knisterte leise verstreutes Heu; mehr jedoch hörte Schlange nicht, obwohl sie wartete.
    »Ich werde den Stallmeister bitten, daß er dich ein bißchen über die Weide jagt«, sagte sie zu ihrem Pony und wartete erneut.
    »Ich reite es für dich, Herrin«, flüsterte das Kind.
    »Woher soll ich wissen, ob du überhaupt reiten kannst?«
    »Ich kann reiten.«
    »Bitte komm runter.«
    Langsam kroch das Kind durch die Öffnung des Dachbodens, baumelte einen Moment lang an beiden Händen, sprang Schlange vor die Füße und verharrte dann mit gesenktem Kopf.
    »Wie lautet dein Name?«
    Das kleine Mädchen nuschelte ein Wort, das aus zwei Silben bestand. Schlange kniete sich hin und faßte das Kind sanft an der Schulter.
    »Entschuldige, aber so kann ich dich nicht verstehen.«
    Das Mädchen blickte hoch, blinzelte aus seinem schrecklich gezeichneten Gesicht. Der Bluterguß war im Verschwinden begriffen.
    »Me-Melissa.«
    Nach dem anfänglichen Zögern sprach es den Namen trotzig aus, als befürchte es, Schlange könne ihn ihm streitig machen, Schlange fragte sich, wie die Auskunft zuerst gelautet haben mochte.
    »Melissa«, wiederholte das Kind und lauschte diesmal dem Klang des eigenen Namens.
    »Mein Name ist Schlange, Melissa.«
    Schlange hielt ihm die Hand entgegen, und das Kind schüttelte sie mit sichtlicher Wachsamkeit.
    »Du willst Eichhörnchen für mich reiten?«
    »Ja.«
    »Vielleicht bockt er ein wenig.«
    Melissa griff nach dem oberen Querbalken des Verschlags und stemmte sich darauf empor.
    »Siehst du den dort drüben?«
    Gegenüber stand ein gewaltiger Schecke, weit über siebzehn Dezimeter hoch. Schlange hatte ihn schon bemerkt; sobald jemand vorüberkam, legte er die Ohren an und fletschte die Zähne.
    »Den reite ich«, sagte Melissa.
    »Gute Götter«, meinte Schlange in aufrichtiger Bewunderung.
    »Ich bin der einzige, der das kann«, sagte Melissa. »Außer dem anderen.«
    »Wem, Ras?«
    »Nein«, antwortete Melissa verächtlich. »Der nicht. Der vom Haus. Mit dem gelben Haar.«
    »Gabriel?«
    »Vermutlich. Aber er kommt selten, um ihn zu holen, deshalb reite ich ihn.« Melissa hüpfte zurück auf den Boden. »Es macht Spaß. Aber dein Pony ist echt niedlich.«
    Angesichts der Befähigung des Mädchens erhob Schlange keine weiteren Einwände.
    »Dann danke ich dir. Ich bin froh, daß jemand sich bereitfindet, ihn zu reiten, der weiß, was er macht.«
    Melissa kletterte auf den Rand der Futterkrippe, um sich wieder auf den Heuboden zurückzuziehen, bevor Schlange etwas einfiel, um sie zu einer Fortsetzung der Unterhaltung zu bewegen. Da wandte sich Melissa ihr noch einmal halb zu.
    »Herrin, sagst du Bescheid, daß ich deine Erlaubnis habe?« Alles Selbstvertrauen war aus der Stimme gewichen.
    »Natürlich«, sagte Schlange.
    Melissa verschwand nach oben. Schlange sattelte Wind und führte die Stute nach draußen, wo sie dem Stallmeister begegnete.
    »Melissa wird Eichhörnchen für mich auf das neue Hufeisen einüben«, sagte Schlange zu ihm. »Ich habe es ihr erlaubt.«
    »Wer?«
    »Melissa.«
    »Jemand aus dem Ort?«
    »Deine Stallgehilfin«, sagte Schlange. »Das rothaarige Kind.«
    »Du meinst Scheusal?« Er lachte.
    Schlange spürte, wie sie dunkelrot wurde, erst aus Bestürzung, dann aus Zorn.
    »Wie kannst du es wagen, ein Kind derartig zu verhöhnen?«
    »Verhöhnen? Indem ich die reine Wahrheit sage? Niemand will sie nur ansehen, und es ist besser, sie merkt‘s sich. Hat sie dich belästigt?«
    Schlange bestieg ihr Pferd und betrachtete ihn aus dem Sattel.
    »Künftig wirst du deine Fäuste an jemandem erproben, der eher an deine Körpergröße heranreicht.«
    Sie drückte Wind ihre Fersen in die Flanken, und die Stute eilte vorwärts, ließ das Stallgebäude und den Stallmeister Ras zurück, das Herrenhaus und den Bürgermeister.
    Der Tag verstrich schneller, als Schlange erwartet hatte. Aufgrund der Kunde, daß sich in Berghausen eine Heilerin aufhielt, kamen Menschen aus dem ganzen Tal zu ihr, brachten Kleinkinder, um an ihnen die Schutzmaßnahmen vollziehen zu lassen, welche sie bieten konnte, doch auch ältere Leute mit chronischen Leiden fanden sich

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