Traumschlange
ruhelos.
»Wo warst du, als er dich überfiel? Ich schicke die Wachleute hin, damit sie nach ihm suchen.«
»Ach, Gabriel, laß das heute abend ruhig bleiben. Mindestens eine Stunde ist inzwischen vergangen – der Kerl dürfte längst fort sein. Du würdest bloß Leute aus ihren warmen Betten scheuchen, damit sie durch den Ort hetzen und noch andere Menschen aus ihren warmen Betten holen.«
»Irgend etwas will ich aber unternehmen.«
»Ich weiß. Aber jetzt kann man nichts tun.« Sie legte sich zurück und schloß die Augen. »Gabriel«, fragte sie unvermittelt nach einer Weile des Schweigens, »was ist eigentlich Melissa zugestoßen?«
Sie schaute zu ihm hinüber; er runzelte die Stirn.
»Wem?«
»Melissa. Der kleinen Stallgehilfin mit der Brandnarbe. Sie ist zehn oder elf und hat rotes Haar.«
»Ich habe keine Ahnung. Ich glaube nicht, daß ich sie schon einmal gesehen habe.«
»Sie reitet dein Pferd für dich.«
»Reitet mein Pferd! Ein zehnjähriges Mädchen? Das ist ja lachhaft!«
»Mir hat sie gesagt, daß sie den Schecken reitet. Es hat sich nicht nach einer Lüge angehört.«
»Vielleicht sitzt sie darauf, wenn Ras ihn auf die Weide führt. Aber ich bin noch nicht einmal sicher, ob er das dulden würde. Ras kann ihn nicht reiten – wie könnte es dann ein Kind?«
»Na, macht ja nichts«, sagte Schlange.
Vielleicht hatte Melissa sie nur beeindrucken wollen; es wäre keine Überraschung, sollte das Kind in einer Phantasiewelt leben. Aber Schlange hatte das Gefühl, Melissas Behauptung nicht so leicht abtun zu dürfen.
»Das ist nicht so wesentlich«, sagte sie zu Gabriel. »Mich interessiert bloß, woher sie die Verbrennung hat.«
»Das weiß ich natürlich nicht.«
Schlange spürte, daß sie aus Erschöpfung einschlafen würde, wenn sie noch länger im Bad blieb; sie stieg umständlich aus dem Wasser. Gabriel hüllte sie in ein großes Badetuch und half ihr beim Abtrocknen ihres Rückens und der Beine, denn sie war noch immer reichlich unbeholfen.
»Es hat einmal im Stall einen Brand gegeben«, sagte er urplötzlich. »Vor vier oder fünf Jahren. Aber ich dachte immer, es sei niemand zu Schaden gekommen. Sogar die meisten Pferde konnte Ras noch herausholen.«
»Melissa versteckte sich zuerst vor mir«, sagte Schlange. »Ist es denkbar, daß sie sich seit vier Jahren verborgen hält?«
Einen Moment lang schwieg Gabriel.
»Wenn sie vernarbt ist...« Aus Unbehagen hob er die Schultern. »Die Vorstellung mißfällt mir, aber wenn ich berücksichtige, daß ich selbst mich drei Jahre lang vor so gut wie jedem Menschen versteckt habe, dann muß ich sagen, ich halte es für möglich.«
Er half ihr in ihr Zimmer und blieb unmittelbar vor der Schwelle stehen, auf einmal wieder verlegen. Plötzlich begriff Schlange, daß sie ihn in gewissem Sinn von neuem gereizt hatte, ohne es zu beabsichtigen. Sie wünschte, sie könnte ihm heute nacht in ihrem Bett einen Platz einräumen; seine Gesellschaft wäre ihr angenehm gewesen. Doch ihre Kräfte waren nicht unerschöpflich. Sie besaß jetzt keine Kraft, um Empfindungen für das andere Geschlecht oder bloß Mitgefühl aufzubringen, und sie wollte ihn nicht noch mehr anheizen, indem sie ihm zumutete, die ganze Nacht lang ruhig neben ihr zu liegen.
»Gute Nacht, Gabriel«, sagte sie. »Ich wollte, wir könnten die letzte Nacht noch einmal erleben.«
Er verhehlte seine Enttäuschung gut, seine Enttäuschung und die Verlegenheit infolge der Einsicht, daß er enttäuscht war, obwohl er sah, daß sie wund, zerschlagen und müde war. Sie gaben sich einen Gutenachtkuß. Schlange spürte eine unerwartete Aufwallung von Verlangen. Nur das Bewußtsein dessen, daß sie am folgenden Morgen nach den heutigen körperlichen und psychischen Belastungen ohnehin nicht allzu munter sein würde, hinderte sie daran, ihn doch noch hereinzubitten. Eine weitere Beanspruchung von Körper und Geist, selbst eine so angenehme wie die durch die Wonnen der Liebe, konnte alles nur verschlimmern.
»Oh, verdammt«, sagte Schlange, als sich Gabriel entfernte, »dieser Verrückte läßt sich ganz schön was zuschulden kommen. «
Ein Geräusch weckte Schlange aus ihrem tiefen Erschöpfungsschlaf. Zuerst glaubte sie, Larril sei wegen des Bürgermeisters herbeigeeilt, aber niemand sprach ein Wort. Aus dem Korridor fiel für einen Moment Lichtschein ins Zimmer, dann schloß sich die Tür wieder, der Raum lag erneut im Dunklen. Schlange blieb völlig reglos. Sie hörte ihr Herz wummern,
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