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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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ist es so gelaufen.«
    »Aber warum?«
    »Weil ich mich nirgends verstecken kann«, antwortete Melissa verärgert. »Du meinst, den Leuten wäre es gleichgültig, aber sie haben Ras verraten, wo ich bin, und da hat er mich zurückgeholt...«
    Schlange nahm Melissas Hand. Das Mädchen verstummte.
    »Entschuldige«, sagte Schlange, »aber das habe ich nicht gemeint. Ich wollte wissen – was verleiht jemandem das Recht, dich zum Bleiben zu zwingen, wenn du es nicht möchtest? Warum mußtest du dich verstecken? Wieso kannst du dir nicht einfach deinen Lohn auszahlen lassen und gehen, wohin du Lust hast?«
    Melissa lachte bitter auf. »Meinen Lohn! Kinder erhalten keinen Lohn. Ras ist mein Vormund. Ich muß tun, was er sagt. Ich muß bei ihm bleiben. Das ist eine Verordnung.«
    »Eine schreckliche Verordnung ist das. Ich weiß, daß er dich schlecht behandelt
    – keine Verordnung einer anständigen Gemeinde dürfte dich zwingen können, bei so einem Kerl zu bleiben. Laß mich mit dem Bürgermeister reden, vielleicht kann er das alles vernünftig regeln, so daß du tun kannst, was du willst.«
    »Herrin, nein!« Melissa warf sich an der Bettkante auf die Knie, grub ihre Finger in die Bettdecke. »Wer sonst würde mich denn aufnehmen? Niemand! Ich müßte bei ihm bleiben, auch wenn ich alles über ihn sagen würde, und dann, dann wäre er bloß noch viel gemeiner zu mir! Bitte tu‘s nicht!«
    Schlange hob sie von den Knien auf und legte die Arme um sie, aber Melissa duckte sich, stemmte sich gegen Schlanges Umarmung, dann ruckte sie plötzlich, als Schlange beim Loslassen mit einer Hand ihr Schulterblatt streifte, mit einem Keuchlaut vorwärts.
    »Melissa, was ist denn?«
    »Nichts.«
    Schlange schaute unter Melissas Hemdenschoß und betrachtete ihren Rücken. Sie war mit einem Leder geschlagen worden, oder einer Rute; jedenfalls mit etwas, das Schmerzen verursachte, aber nicht bis aufs Blut verwundete, das Melissa nicht am Arbeiten hinderte.
    »Wie...?« Sie verstummte. »Oh, verflucht! Ras war wütend auf mich, stimmt‘s?Ich habe dir, als ich ihm die Meinung sagte, Ärger bereitet, nicht wahr?«
    »Herrin, wenn er schlagen will, schlägt er eben. Er denkt sich nichts dabei. Ob‘s mich trifft oder die Pferde, das ist ihm gleich.« Sie trat zurück und blickte zur Tür.
    »Geh nicht hinunter. Bleib über Nacht hier. Morgen können wir uns in aller Ruhe überlegen, was wir tun.«
    »Nein, Herrin, bitte, es ist doch alles in Ordnung. Mir macht das alles gar nichts aus. Ich war schon immer hier. Ich weiß, wie ich zurechtkomme. Kümmere dich nicht darum, bitte. Jetzt muß ich gehen.«
    »Warte...«
    Aber Melissa schlüpfte aus dem Zimmer. Hinter ihr schloß sich die Tür. Als Schlange aus dem Bett gesprungen und hinterdreingehumpelt war, hatte sie bereits den halben Weg zur Treppe zurückgelegt. Schlange stützte sich an den Türrahmen und beugte sich in den Korridor.
    »Wir müssen uns darüber aussprechen«, rief sie, aber Melissa lief wortlos die Treppenflucht hinunter und verschwand.
    Schlange hinkte zurück zu ihrem weichen Bett, legte sich wieder unter die warmen Decken und drehte die Lampe hinab; sie dachte an Melissa draußen in der dunklen, kühlen Nacht.
     
    Schlange erwachte ganz allmählich und lag dabei still; am liebsten hätte sie den vollen Tag verschlafen. Sie war so selten krank, daß sie sich nie so recht dazu durchringen konnte, sich zu schonen, wenn es ihr schlecht ging. In Anbetracht der ernsten Mahnungen, die sie Gabriels Vater gegenüber geäußert hatte, wäre es widersinnig gewesen, die eigenen Ratschläge nun kein bißchen zu beachten.
    Schlange seufzte. Sie konnte einen ganzen Tag hindurch angestrengt arbeiten; sie vermochte lange Strecken zu Fuß oder auf dem Rücken eines Pferdes zurückzulegen; dergleichen machte ihr nichts aus. Doch gegenwärtig hatten sich Ärger, ein Adrenalinausstoß und die Strapazen eines Handgemenges gegen sie verschworen. Sie sammelte langsam ihre Willenskraft und wagte vorsichtige Bewegungen. Sie hielt den Atem an und erstarrte. Der Schmerz in ihrem rechten Knie, wo die Arthritis am schlimmsten war, stach reichlich stark. Ihr Knie war geschwollen und steif, und auch alle anderen Gelenke taten weh. Sie war an Schmerzen gewöhnt.
    Aber heute verspürte sie zum erstenmal das ärgste Ziehen in ihrer rechten Schulter. Sie ließ sich zurücksinken. Wenn sie sich heute zur Abreise zwang, würde es ihr bald nur noch übler gehen, und dann läge sie irgendwo in der Wüste

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