Traumschlange
herum. Sie war dazu imstande, Schmerzen zu mißachten, falls notwendig, aber so etwas kostete viel Kraft, und man mußte später dafür büßen. Zur Zeit verfügte ihr Körper über keinerlei überschüssige Kräfte.
Noch immer vermochte sie sich nicht zu erinnern, wo ihr Gürtel abgeblieben war, oder – nun, da sie daran dachte – warum sie ihn überhaupt mitten in der Nacht gesucht hatte; plötzlich jedoch setzte sie sich mit einem Ruck auf, als sie sich an Melissas Besuch entsann, und beinahe hätte sie laut aufgeschrien. Aber ihr schlechtes Gewissen peinigte sie auf einmal ebenso stark wie ihr Körper. Sie mußte etwas unternehmen. Aber Ras noch einmal zur Rede zu stellen, war für ihre kleine Freundin keine Hilfe. Das hatte Schlange jetzt begriffen. Sie wußte nicht, was sich tun ließ. Im Augenblick wußte sie nicht einmal, ob sie es allein bis ins Bad schaffen konnte. Das jedoch gelang ihr immerhin. Und dort fand sie auch ihren Gürtel wieder, unversehrt an einen Haken gehängt, samt Börse und Messer. Soweit sie sich entsann, hatte sie alles liegen gelassen, wo es beim Auskleiden gerade hinfiel. Sie war ein wenig verlegen, denn normalerweise war sie nicht so unordentlich.
Ihre Stirn wies einen blauen Fleck auf, und der lange oberflächliche Schnitt war dick verschorft; daran ließ sich nichts ändern. Schlange entnahm ihrer Gürteltasche das Aspirin, schluckte eine starke Dosis und hinkte zurück in ihr Zimmer, wo sie sich wieder ins Bett legte. Während sie auf den Schlaf wartete, fragte sie sich, in welchem Maße die Arthritisanfälle mit zunehmendem Alter wohl häufiger auftreten mochten. Sie waren unvermeidlich, aber es mußte keineswegs ebenso unvermeidlich jedesmal der Fall sein, daß ihr zu ihrer Erholung ein so behaglicher Ort, zur Verfügung stand.
Die Sonne schwebte hoch und scharlachrot hinter dünnen grauen Wolken, als sie von neuem erwachte. In ihren Ohren klingelte es schwach vom Aspirin. Behutsam beugte sie das rechte Knie und empfand Erleichterung, als sich herausstellte, daß es wieder beweglicher war und weniger schmerzhaft. Das gedämpfte Klopfen, das sie aufgeweckt hatte, ertönte nochmals.
»Herein.«
Gabriel öffnete die Tür und schaute ins Zimmer. »Schlange, geht‘s dir jetzt besser?«
»Ja, komm ruhig herein.«
Gabriel trat ein, während sie sich aufsetzte.
»Ich bedaure es sehr, falls ich dich geweckt habe, aber ich habe schon einige Male den Kopf hineingesteckt, und du hattest dich nie gerührt.«
Schlange schob die Bettdecken beiseite und zeigte ihm ihr Knie. Die Schwellung war schon wesentlich geringer, aber es war noch längst nicht wieder normalisiert, und ihre Blutergüsse hatten sich blau und rot verfärbt.
»Gute Götter«, sagte Gabriel.
»Morgen wird‘s schon besser sein«, versicherte ihm Schlange. Sie rückte zur Seite, damit er sich neben sie setzen könne. »Es könnte mich schlimmer erwischt haben, glaube ich.«
»Einmal habe ich mir das Knie verstaucht, und es sah eine Woche lang aus wie eine Melone. Morgen, sagst du? Anscheinend genesen Heilerinnen ungewöhnlich schnell.«
»Ich habe es mir gestern nicht verstaucht, nur angeschlagen. Die Schwellung kommt hauptsächlich von meiner Arthritis.«
»Arthritis! Ich dachte, du erkrankst nie.«
»Ich ziehe mir keine ansteckenden Krankheiten zu. Heiler bekommen immer Arthritis, es sei denn, zuvor packt sie irgend etwas Ernsteres.« Sie hob die Schultern. »Die Abwehrstoffe, von denen ich dir erzählt habe, sind die Ursache. Manchmal fallen sie ein bißchen aus der Rolle und greifen den Körper an, der sie selbst gebildet hat.«
Sie sah keine Veranlassung, ihm die wirklich ernsten Krankheiten zu beschreiben, denen Heiler erliegen konnten. Gabriel erbot sich, ihr ein Frühstück zu verschaffen, und sie bemerkte mit einiger Überraschung, daß sie tatsächlich Hunger verspürte.
Schlange verbrachte den Rest des Tages mit heißen Bädern und im Bett, schläfrig von der starken Dosis Aspirin. Das war jedenfalls die Wirkung, die es auf sie ausübte. Dann und wann kam Gabriel und saß für ein Weilchen an ihrer Bettkante, oder Larril trug ein Tablett herein, oder Brian erschien und berichtete über das Befinden des Bürgermeisters. Seit der Nacht, als er aufzustehen versuchte, hatte Gabriels Vater Schlanges Beistand nicht wieder benötigt; und Brian war als Krankenpfleger weit tüchtiger als sie.
Sie brannte darauf, endlich weiterzuziehen, das Tal zu durchqueren, die nächste Bergkette zu überwinden,
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