Traumschlange
ihren Weg zur Stadt fortzusetzen. Die Möglichkeiten, welche die Stadt potentiell bot, faszinierten sie. Und es verlangte sie danach, endlich das Haus des Bürgermeisters zu verlassen. Es ging ihr hier so gut, wie sie es sich nur vorstellen konnte, wenigstens so wie in der Niederlassung der Heiler. Und doch war das Haus ein unerfreulicher Aufenthaltsort; sobald man sich ein wenig mit den Verhältnissen vertraut gemacht hatte, ließen sich die emotionalen Spannungen zwischen den Bewohnern überdeutlich wahrnehmen. Es war zu sehr Herrensitz und zu wenig Heim einer Familie; zuviel Macht und zuwenig Schutz dagegen. Der Bürgermeister behielt alle seine Stärken für sich, ohne etwas davon weiterzugeben, und Ras mißbrauchte seine Stellung. Doch so dringlich Schlange auch fort wollte, so sehr sah sie sich andererseits dazu außerstande zu verschwinden, ohne etwas für Melissa getan zu haben. Melissa...
Der Bürgermeister verfügte über eine Bibliothek, und Larril hatte Schlange einige Bücher gebracht. Sie versuchte zu lesen. Unter normalen Umständen hätte sie im Laufe des Tages mehrere Bücher gelesen, viel zu schnell, um sie richtig würdigen zu können. Aber diesmal langweilte sie sich, sie war ruhelos, zerstreut und innerlich aufgewühlt. Nachmittags stand sie auf und hinkte zu einem Stuhl am Fenster, von wo aus man übers Tal ausschauen konnte. Nicht einmal Gabriel war noch erreichbar, um sich mit ihr zu unterhalten, weil er sich nach Berghausen hinunterbegeben hatte, um die Beschreibung des Verrückten bekanntzumachen.
Sie hoffte, daß man ihn schnappte, und hoffte auch, daß sich ihm noch helfen ließ. Vor ihr lag ein weiter Weg, und ihr mißbehagte die Vorstellung, sich ununterbrochen wegen ihres Verfolgers sorgen zu müssen. In dieser Jahreszeit zogen nicht länger Karawanen zur Stadt; sie mußte allein ziehen oder gar nicht.
Grums Einladung, in ihrem Dorf zu überwintern, wirkte nun noch verlockender. Aber der Gedanke, ein halbes Jahr lang in der Ausübung ihrer Tätigkeit eingeschränkt zu sein, ohne zu wissen, ob es ihr gelingen würde, sich zu rechtfertigen, war ihr unerträglich. Sie mußte zur Stadt – oder zurück zur Niederlassung der Heiler und sich dort dem Urteil ihrer Lehrer unterwerfen. Grum. Vielleicht konnte Melissa bei ihr ein Zuhause finden, falls es Schlange gelang, das Kind aus Berg-hausen loszueisen. Grum war weder selbst schön noch legte sie Wert auf körperliche Schönheit; bei ihr wären Melissas Narben ohne Bedeutung. Doch es würde Tage beanspruchen, Grum zu benachrichtigen und von ihr eine Antwort zu erhalten; ihr Dorf lag weit im Norden. Außerdem mußte sich Schlange bei nähererÜberlegung eingestehen, daß sie Grum gar nicht gut genug kannte, um sie um einen Gefallen zu bitten, der eine solche Verantwortung einschloß. Schlange seufzte, pflügte mit einer Hand durch ihren Schopf und wünschte, das Problem versänke in ihr Unterbewußtsein und käme gelöst wieder zum Vorschein... wie ein Traum. Sie blickte im Zimmer umher, als ließe sich darin irgend etwas entdecken, das ihr verriet, was sie tun solle.
Auf dem Tisch am Fenster standen ein Korb voller Obst, ein Teller mit Käse und Keksen sowie ein Tablett mit Fleisch in dünnen Scheiben. Das Personal des Bürgermeisters war in der Versorgung Kranker überaus großzügig; während des langen Tages hatte Schlange nicht einmal durch das Warten und die damit verbundene Vorfreude auf die verschiedenen Mahlzeiten Ablenkung gefunden. Sie hatte Gabriel, Larril, Brian und andere Bedienstete, die kamen, um das Bett zu machen, Krümel wegzufegen, die Fenster zu putzen und ähnliches zu verrichten (bis jetzt hatte sie keine Ahnung, wie viele Leute im Haus beschäftigt waren, den Haushalt in Gang hielten und Gabriel und seinem Vater zu Diensten standen – jedesmal, wenn sie einen neuen Namen hörte, erschien auch ein neues Gesicht), eindringlich aufgefordert, ebenfalls davon zu essen, aber nach wie vor waren die meisten Tabletts und Schüsseln noch reichlich voll mit Speisen.
Aufgrund einer unvermittelten Anwandlung entnahm Schlange dem Korb das Obst, ausgenommen die schönsten und saftigsten Stücke, und füllte ihn dann mit Keksen, Käse und in Servietten gewickeltem Fleisch auf. Sie fing eine Mitteilung zu schreiben an, aber dann überlegte sie es sich anders und zeichnete lediglich eine zusammengerollte Schlange auf ein Stück Papier. Sie faltete es zusammen und schob es zwischen die Lebensmittel; schließlich breitete sie über
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