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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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alles eine Serviette und läutete. Ein junger Bursche kam – schon wieder ein Diener, den sie noch nicht kannte – und sie bat ihn, den Korb hinunter ins Stallgebäude zu tragen und über Eichhörnchens Verschlag auf den Heuboden zu stellen. Der Junge war erst dreizehn oder vierzehn, schlaksig durch überstürzten Wuchs, und daher ließ sie ihn sicherheitshalber versprechen, nichts aus dem Korb zu stehlen. Zum Ausgleich versprach sie ihm von allem, was sich noch auf dem Tisch befand, soviel er wollte. Er machte keinen unterernährten Eindruck, aber Schlange hatte noch nie ein Kind im Emporsprießen gesehen, das nicht ständig leichten Hunger verspürte.
    »Bist du mit diesem Geschäft zufrieden?« fragte sie.
    Der Junge grinste. Seine großen Zähne waren weiß und ganz schwach gekrümmt; aus ihm mußte ein gutaussehender junger Mann werden. Schlange wurde sich beiläufig dessen bewußt, daß in Berghausen sogar Jugendliche eine reine Haut hatten.
    »Klar, Herrin«, sagte er.
    »Gut. Gib acht, daß der Stallmeister dich nicht sieht. Er hat mich nicht nötig, um an anständiges Essen zu gelangen.«
    »Bestimmt nicht, Herrin.«
    Der Junge grinste nochmals, nahm den Korb und verließ das Zimmer. Aus seinem Tonfall schlußfolgerte Schlange, daß Melissa nicht das einzige wehrlose Kind der Umgebung war, das unter Ras‘ Launen zu leiden hatte. Aber das half Melissa nicht viel. Der Dienstbursche war, um gegen Ras auftreten zu können, in keiner günstigeren Lage als Melissa.
    Sie hätte sich gern noch einmal mit dem Kind unterhalten, aber der Tag verstrich, ohne daß Melissa aufkreuzte. Schlange wollte keine deutlichere Nachricht hinabschicken als den Zettel im Korb; es galt zu verhindern, daß Melissa wegen ihrer Einmischung noch mehr Schläge erhielt.
     
    Es war schon dunkel, als Gabriel ins Haus zurückkehrte und Schlanges Unterkunft betrat. Er hatte viel zu tun gehabt, aber sein Versprechen, Schlanges zerrissenes Kleid zu ersetzen, nicht vergessen.
    »Nichts«, sagte er. »Niemand, der in einer Wüstenrobe herumläuft. Niemand, der sich sonderbar aufführt.«
    Schlange probierte das Kleid an, und es paßte ihr überraschenderweise ausgezeichnet. Jenes, das sie selbst gekauft hatte, war braun gewesen, aus grobem handgewebtem Stoff. Dies hier bestand aus erheblich weicherem Gewebe, war seidig dünn, aber kräftig, in Weiß mit einem verzwickten blauen Muster, erzeugt im Handdruckverfahren. Schlange verrenkte die Schultern und streckte die Arme aus, strich mit den Fingerkuppen über die kräftigen Farben.
    »Er dürfte sich neu eingekleidet haben – und damit ist er ein anderer Mann. Erhat sich ein Zimmer in einem Gasthaus gemietet und entzieht sich der Öffentlichkeit. Wahrscheinlich ist er nicht auffälliger als andere Fremde, die durch Berghausen kommen.«
    »Die meisten Fremden sind bereits vor Wochen durchgekommen«, sagte Gabriel und seufzte. »Aber du hast trotzdem recht. Auch heute dürfte er schwerlich auffallen.«
    Schlange blickte versonnen durch das Fenster hinaus in die Dunkelheit. Sie sah ein paar Lichter im Tal, die Lichter weit verstreuter Gehöfte.
    »Wie steht es um dein Knie?«
    »Es ist jetzt wieder recht brauchbar.«
    Die Schwellung war fort und der Schmerz auf jenes Maß abgesunken, das bei wechselhaftem Wetter hingenommen werden mußte. Eines hatte ihr in der Schwarzen Wüste gefallen, trotz der Hitze: die Beständigkeit des Wetters. Dort war sie am Morgen nie mit dem Gefühl erwacht, eine wacklige Großmutter mit hundert Lenzen auf dem Buckel zu sein.
    »Das ist gut«, sagte Gabriel mit einem Tonfall in der Stimme, der vorsichtige, hoffnungsvolle Erwartung ausdrückte.
    »Heiler genesen wirklich schnell«, sagte Schlange. »Vorausgesetzt, sie haben eine starke Motivation.«
    Sie verdrängte ihre Sorgen und lächelte; Gabriel belohnte sie seinerseits mit seinem strahlendsten Lächeln.
     
    Diesmal erschreckte das Geräusch der Tür, als sie sich öffnete, Schlange nicht. Sie erwachte ruhig und stützte sich auf den Ellbogen.
    »Melissa?«
    Sie drehte die Lampe gerade genügend hoch, daß sie einander sehen konnten, weil sie Gabriel nicht wecken wollte.
    »Der Korb ist angekommen«, sagte Melissa. »Die Sachen waren prima. Eichhörnchen mag Käse, aber Wind nicht.«
    Schlange lachte. »Ich bin froh, daß du hier bist. Ich hatte ja noch vor, mit dir zu reden.«
    »Ja.« Melissa atmete langsam aus. »Wohin sollte ich gehen, wenn ich fort dürfte?«
    »Ich weiß nicht, ob du das glauben kannst, nach

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