Traumschlange
all dem Quatsch, den dir Ras erzählt hat, aber du könntest so gut wie überall außer in Berghausen Jockei werden. Am Anfang hättest du es etwas schwerer, aber die Leute würden dich sehr schätzen für das, was du bist und fertigbringst.«
Selbst in Schlanges Ohren klangen ihre Worte hohl. Du Närrin, dachte sie, du sagst einem völlig eingeschüchterten Kind, es solle allein in die Welt hinausziehen und zusehen, wie es Erfolg erlangt. Sie überlegte, ob sie nicht vernünftigere Dinge zu sagen wußte. An ihrer Seite, einen Arm auf ihrer Hüfte, regte sich Gabriel und murmelte.
»Alles klar, Gabriel«, sagte sie. »Schlaf nur weiter.«
Er seufzte und sank sofort wieder in festen Schlaf. Schlange wandte sich von neuem Melissa zu. Einen Moment lang starrte das Kind sie an, im trüben Lichtschein gespenstisch bleich. Plötzlich fuhr es herum und lief davon. Schlange sprang augenblicklich aus dem Bett und folgte dem Mädchen. Melissa rüttelte am Türgriff und schluchzte; Schlange holte sie ein, als sie die Tür aufriß. Das Kind stürzte in den Korridor, aber Schlange war nun zur Stelle und hielt es fest.
»Melissa, was ist denn mit dir?«
Melissa duckte sich und weinte hemmungslos. Schlange kniete nieder und drückte sie an sich, drehte sie langsam um, streichelte ihr Haar.
»Es ist ja gut«, flüsterte Schlange, um überhaupt etwas zu sagen, »es ist alles gut.«
»Ich dachte nicht... ich wußte nicht...« Melissa befreite sich aus Schlanges Umarmung. »Ich dachte, du wärst stärker. Ich dachte, du könntest tun, was du willst. Aber du bist genauso wie ich.«
Melissas Hand ließ Schlange nicht ihrem Griff entwinden. Sie führte sie in eines der anderen Gästezimmer und drehte das Licht auf. Hier war der Fußboden nicht beheizt, und der Stein schien Schlanges nackten Fußsohlen im Handumdrehen alle Körperwärme zu entziehen. Sie nahm vom ordentlich gemachten Bett eine Decke und schlang sie sich um die Schultern, während sie Melissa zu den Stühlen am Fenster geleitete. Sie setzten sich; Melissa nahm nur widerwillig Platz.
»So. Nun sag mir, was nicht stimmen soll.«
Melissa zog die Knie an ihren Brustkorb, den Kopf gesenkt. »Du mußt auch tun, was sie wollen.«
»Ich muß keineswegs tun, was irgend jemand will.«
Melissa blickte auf. Aus ihrem rechten Auge rannen die Tränen senkrecht ihre Wange hinab. Auf der linken Gesichtshälfte leitete das Narbengewebe die Tränen weiter seitwärts. Sie senkte wieder den Kopf. Schlange rückte näher und legte ihr einen Arm um die Schultern.
»Nur ruhig. Es hat keine Eile.«
»Sie... sie machen etwas...«
In restloser Verständnislosigkeit runzelte Schlange die Stirn. »Was, ›etwas‹? Wer sind ›sie‹?«
»Er.«
»Wer? Doch nicht Gabriel!« Hastig nickte Melissa, ohne sie anzusehen.
Schlange vermochte sich nicht vorzustellen, daß Gabriel irgendwem mutwillig ein Leid zufügte.
»Was ist denn geschehen? Wenn er dir irgend etwas angetan haben sollte, dann war es doch ganz sicher nur ein unglücklicher Zufall.«
Melissa sah zu ihr auf. »Mir hat er nichts getan.« Ihre Stimme zeugte von Verachtung.
»Liebe Melissa, von allem, was du mir jetzt gesagt hast, habe ich noch kein einziges Wort verstanden. Wenn Gabriel dir nichts getan hat, warum warst du dann so erschrocken, als du ihn gesehen hast? Er ist wirklich sehr nett.«
Vielleicht wußte Melissa von Leahs Schicksal und fürchtete nun um Schlange.
»Er holt dich in sein Bett.«
»Das ist mein Bett.«
»Es ist egal, wessen Bett es ist. Ras findet mich nicht, wo ich schlafe, aber manchmal...«
»Ras?«
»Er und ich. Du und der drüben.«
»Einen Moment«, sagte Schlange. »Ras holt dich in sein Bett? Wenn du es gar nicht möchtest?« Eine dumme Frage, befand sie, aber eine klügere fiel ihr vorerst nicht ein.
»Mögen!« rief Melissa im Ton des Abscheus.
»Macht er noch anderes mit dir?« erkundigte sich Melissa langsam und mit der Ruhe vollkommenen Unglaubens.
»Er hat gesagt, es würde zu schmerzen aufhören, aber bis jetzt war‘s noch nie so...«
Sie verbarg ihr Gesicht an ihren Knien. In einer Aufwallung von Mitleid und Ekel begriff Schlange endlich, was Melissa ihr begreiflich zu machen versucht hatte. Schlange drückte Melissa an sich, tätschelte sie und streichelte ihr Haar, bis das Kind schließlich langsam, als befürchte es, jemand könne es daran hindern, die Arme um Schlange legte und an ihrer Schulter weinte.
»Du brauchst mir nichts mehr zu erzählen«, sagte Schlange. »Ich
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