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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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den Rückweg zum Stall, so wenig zur Eile veranlaßt wie Melissa. Falls sie noch einen Zweifel an irgend etwas von dem, das Melissa behauptete, gehegt hatte, so war nun jeder Vorbehalt ausgeräumt. Sie hatte nicht bezweifelt, daß Ras das Kind mißbrauchte; Melissas Nöte und Verwirrung waren jederzeit echt gewesen. Allerdings hatte sich Schlange durchaus gefragt, ob die Mitteilung, sie reite Gabriels Roß, ein entschuldbares Phantasiegebilde sein könne, doch nun stand fest, daß es sich auch dabei um die Wahrheit handelte, und zugleich begriff Schlange, wie schwierig es sein mochte, ihre kleine Freundin aus ihren gegenwärtigen Verhältnissen zu befreien. Melissa war für Ras wertvoll, so daß er sich nachdrücklich dagegen stemmen würde, wollte man sie ihm entziehen.
    Schlange sah ein, daß es zwecklos wäre, sich unumwunden an den Bürgermeister zu wenden, mit dem sie sich nicht sonderlich gut verstand, und Ras als den krummen Hund, der er war, zu entlarven. Wer hätte ihr so etwas schon geglaubt? Am hellichten Tag fiel es ihr selbst schwer zu glauben, daß dergleichen möglich war, und Melissa war viel zu eingeschüchtert, um Ras offen anzuschuldigen. Schlange konnte es ihr nicht verübeln. Schlange ging hinüber in den anderen Turm und klopfte an die Tür zu den Räumlichkeiten des Bürgermeisters. Sie bemerkte, wie früh es noch war, als ihr Pochen laut durch den steinernen Korridor hallte. Aber sie hatte kaum Gewissensbisse; sie befand sich nicht in der Stimmung für herkömmliche Höflichkeit. Brian öffnete die Tür.
    »Ja, Herrin?«
    »Ich bin gekommen, um mit dem Bürgermeister über meine Entlohnung zu sprechen.«
    Er verbeugte sich und ließ, sie ein.
    »Er ist wach. Sicher empfängt er dich.«
    Schlange hob bei der Andeutung, der Bürgermeister könne es womöglich vorziehen; sie nicht zu empfangen, eine Braue. Aber der alte Diener hatte nach Art eines Menschen gesprochen, dessen Verehrung für eine bestimmte Person alle anderen Erwägungen ausschloß. Auch Brian hatte ihren Groll nicht verdient.
    »Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagte Brian, während er sie zum Turmzimmer führte. »Der Schorf juckt so arg... könntest du ihm vielleicht...?«
    »Wenn keine Entzündung vorliegt, ist das eine Sache der Apothekerin, nicht die meine«, entgegnete Schlange ungerührt.
    Brian sah sie an. »Herrin, aber...«
    »Ich wünsche mit ihm allein zu sprechen, Brian. Würdest du bitte nach dem Stallmeister und Melissa schicken?«
    »Melissa?« Diesmal rutschten seine Brauen aufwärts. »Ist das dieses rothaarige Kind?«
    »Ja.«
    »Herrin, bist du sicher, daß du dieses Mädchen kommen lassen willst?«
    »Bitte erledige, was ich dir aufgetragen habe.«
    Er verneigte sich knapp; sein Gesicht trug die Maske eines untadeligen Dieners. Schlange ging an ihm vorbei und betrat das Schlafzimmer des Bürgermeisters.
    Der Bürgermeister lag zusammengekrümmt auf dem Bett, Laken und Decken in wirren Haufen rings um sich und am Fußboden verteilt. Der Verband war von seinem Bein und dem sauberen braunen Schorf gerutscht. Langsam kratzte er sich die im Verheilen begriffene Wunde, im Gesicht einen Ausdruck von Erleichterung und Wohlbefinden. Als er Schlange sah, versuchte er, den Verband wieder hochzustreifen und lächelte schuldbewußt.
    »Es juckt«, sagte er. »Ich nehme an, daß dies ein gutes Zeichen ist und anzeigt, daß die Wunde heilt?«
    »Kratzen Sie nach Lust und Laune daran herum«, antwortete Schlange. »Es wird ja noch zwei Tage dauern, bis sie wieder entzündet ist.«
    Seine Hand zuckte zurück, und er schob sich hinauf in seine Kissen. Linkisch versuchte er, das Bettzeug zu ordnen und zu glätten; dabei schaute er umher, schon wieder in gereizter Stimmung.
    »Wo ist Brian?«
    »Er erledigt etwas für mich.«
    »Aha.« Schlange hörte in seiner Stimme verstärkten Mißmut mitklingen, aber der Bürgermeister verzichtete darauf, weiter auf diese Angelegenheit einzugehen.
    »Wolltest du mich wegen irgend etwas sprechen?«
    »Wegen meiner Entlohnung.«
    »Natürlich! Ich hätte von selber schon darauf zu sprechen kommen sollen. Ich wußte nicht, daß du uns so bald verlassen willst, meine Liebe.«
    Schlange schätzte Vertraulichkeiten von Leuten nicht, die sie nicht mochte. Grum hatte derartige Anreden wohl schon fünfzig-oder hundertmal am Tag zu ihr gebraucht, aber kein einziges Mal hatten sie so abgedroschen geklungen wie aus dem Munde dieses Mannes.
    »Ich kenne keinen Ort, wo man sich weigert, die

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