Traumschlange
habe dich erst nicht verstanden, aber jetzt weiß ich Bescheid. Oh, Melissa, so soll es ja gar nicht sein. Hat dir das nie jemand gesagt?«
»Ich hätte Glück, meinte er«, flüsterte Melissa. »Er sagte, ich müsse ihm dankbar sein, weil er mich überhaupt anfaßt.« Sie erbebte heftig. Schlange wiegte sie an ihrem Busen.
»Er hatte Glück«, sagte sie. »Er hatte Glück, weil niemand davon erfuhr.«
Die Tür öffnete sich, und Gabriel schaute herein.
»Schlange...? Ach, da bist du ja!«
Er trat ein; der Lampenschein schimmerte auf seinem goldbraunen Körper. In ihrer Überraschung sah Melissa ihm entgegen. Gabriel erstarrte, in seiner Miene breiteten sich Schrecken und Entsetzen aus. Melissa zog erneut den Kopf ein und klammerte sich fester an Schlange, zitterte vor Anstrengung, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Was...?«
»Geh wieder ins Bett«, sagte Schlange zu ihm, schroffer als sie beabsichtigt hatte, aber nicht so böse, wie sie ihm wirklich böse war in diesem Moment.
»Was geht hier vor?« fragte er sachlich. Er musterte Melissa, die Stirn in Falten gelegt.
»Geh! Wir sprechen morgen darüber.«
Er wollte Einwände erheben, doch als er Schlanges Miene sah, hielt er den Mund und ging hinaus. Schlange und Melissa saßen für lange Zeit stumm beieinander. Allmählich beruhigte sich Melissa, ihre Atemzüge wurden regelmäßiger.
»Siehst du, wie die Leute mich anschauen?«
»Ja, mein Liebes. Ich seh es.«
Nach Gabriels Reaktion fühlte sich Schlange nicht länger dazu imstande, die menschliche Toleranz in den rosigsten Farben zu schildern. Und trotzdem hoffte sie jetzt noch stärker als zuvor, daß Melissa sich entschließen werde, diese Ortschaft zu verlassen. Überall wäre es besser. Überall.
Schlanges Zorn schwoll langsam, aber unausweichlich an, steigerte sich zu gefährlichem Maß. Ein Kind, das gebrandmarkt, zutiefst verletzt und völlig eingeschüchtert war, besaß soviel Recht auf eine behutsame Einführung ins Sexualleben wie ein hübsches, selbstsicheres Kind, womöglich sogar mehr. Aber man hatte Melissa nur noch stärker gezeichnet, sie weiter verletzt und immer mehr eingeschüchtert. Und erniedrigt. Schlange hielt sie in den Armen und schaukelte sie. Melissa klammerte sich an sie wie ein viel kleineres Kind.
»Melissa...«
»Ja, Herrin?«
»Ras ist ein schlechter Mensch. Er war auf eine Weise übel zu dir, wie nur ein schlechter Mensch es sein kann. Ich verspreche dir, daß er dir niemals wieder etwas antun wird.«
»Was macht es, ob er‘s ist oder ein anderer?«
»Weißt du noch, wie du dich gewundert hast, daß jemand mich überfallen haben sollte?«
»Aber das war ein Verrückter. Ras ist nicht verrückt.«
»Es gibt mehr solche Verrückte als Menschen wie Ras.«
»Der andere Mann ist auch wie Ras. Du mußtest zu ihm ins Bett.«
»Nein, ich mußte nicht. Ich habe ihn selbst gebeten, bei mir zu bleiben. Menschen können gewisse Dinge füreinander tun...«
Melissa blickte auf. Schlange konnte nicht feststellen, ob ihre Miene Neugier oder Sorge widerspiegelte, die schreckliche Brandwunde machte ihr Gesicht steif und ausdrucksarm. Erstmals sah Schlange, daß die Verbrennung sich bis unter den Kragen erstreckte. Schlange fühlte das Blut aus ihren Wangen weichen.
»Herrin, was ist mit dir?«
»Beantworte mir eine Frage, Liebes. Wie ernst hast du dich damals verbrannt? Bis wohin reichen die Narben?«
Melissas rechtes Auge verengte sich; mehr Ausdruck konnte sie ihrer Gereiztheit nicht verleihen.
»Vom Gesicht...« Sie trat zurück und berührte gleich unterhalb der Kehle ihr Schlüsselbein. »... und hier...« Ihre Hand glitt über ihren Brustkorb bis zur untersten Rippe und dann zur Seite, »... bis hier.«
»Nicht weiter hinab?«
»Nein. Aber ich konnte lange nicht den Arm bewegen.« Sie drehte ihre rechte Schulter; sie war weniger beweglich, als sie hätte sein müssen. »Ich hatte noch Glück. Wäre es schlimmer, so daß ich nicht reiten könnte – niemand sähe einen Grund, mich überhaupt am Leben zu lassen.«
Erleichtert entließ Schlange langsam den gestockten Atem. Sie hatte schon Menschen mit so schweren Verbrennungen gesehen, daß nichts von ihrem Geschlecht übriggeblieben war, weder äußere Organe noch die Fähigkeit zum Lustempfinden. Schlange dankte allen Göttern aller Menschen der Welt für das, was ihr Melissa soeben offenbarte. Ras hatte ihr Schmerzen bereitet, aber sie waren allein dadurch entstanden, weil sie ein Kind war und Ras ein
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