Traumschlange
haben hier selber hervorragende Lehrkräfte. Warum sollte sie nach Mittenweg gehen müssen?«
»Ich weiß, daß man in Berghausen Schönheit schätzt«, sagte Schlange, »aber ich glaube, man schätzt ebenso Fähigkeiten, Wissen und Biokontrolle. Melissa sollte sich all das aneignen dürfen, auch wenn sie zu diesem Zweck an einen anderen Ort gehen muß, um eine Lehrerin zu finden.«
»Willst du damit sagen, daß das Kind noch nie bei einer Lehrerin gewesen sei?«
»Natürlich war sie‘s«, rief Ras. »Das ist nur ein Trick, um das Kind unseres Schutzes zu berauben.« Ras begann Schlange anzuschreien. »Du glaubst, du kannst überall, wo du aufkreuzt, alles nach deinem Belieben zurechtbiegen. Du meinst, daß die Leute alles glauben, was du und dieses undankbare kleine Balg mir anhängen wollt. Alle fürchten sich vor dir und deinen schleimigen Reptilien, aber ich nicht. Laß eins auf mich los, wenn du willst, ich hau‘s platt!«
Plötzlich verstummte er und stierte nach links und rechts, als habe er vergessen, wo er sich befand. Aber er hatte keine Möglichkeit zu einem theatralischen Abgang.
»Es erübrigt sich, daß du dich mit Schlangen anlegst«, sagte Schlange.
Der Bürgermeister achtete nicht auf sie und nicht auf Ras, er beugte sich vor und sah Melissa an. »Kind, warst du bei einer Lehrmeisterin für Mädchen?«
Melissa zögerte, dann antwortete sie. »Ich weiß nicht, was das ist.«
»Niemand wollte sie annehmen«, sagte Ras.
»Rede kein blödes Zeug. Unsere Lehrkräfte weisen niemanden ab. Warst du mit ihr bei einer Lehrerin oder nicht?« Ras starrte seine Knie an und schwieg. »Es läßt sich ohne weiteres feststellen, Ras.«
»Nein, Herr.«
»Nein? Nicht?« Der Bürgermeister warf die Decken zur Seite und sprang auf; er torkelte, blieb jedoch auf den Beinen. Er ragte über Ras empor, ein Riese vor einem anderen Riesen, zwei große, schöne Lebewesen in der Begegnung, eines rot vor Wut, das andere angesichts dieses Zorns bleich. »Warum nicht?«
»Sie braucht keine Lehrerin.«
»Wie konntest du das wagen?!« Der Bürgermeister lehnte sich vorwärts und zwang Ras rücklings gegen die Stuhllehne. »Wie kannst du es wagen, das Kind so zu gefährden! Wie kannst du es wagen, es der Unwissenheit und dem Unheil preiszugeben!«
»Sie ist nicht in Gefahr. Es ist überflüssig, daß sie sich schützen lernt, es faßt sie ja sowieso niemals jemand an.«
»Du faßt mich an!« Melissa lief zu Schlange und klammerte sich an sie. Schlange nahm das Kind in die Arme.
»Du...?« Der Bürgermeister straffte sich und trat zurück. Brian eilte lautlos herbei und stützte ihn, bevor ihm sein Bein den Dienst versagen konnte. »Was bedeutet das, Ras? Warum hat sie solche Furcht?« Ras schüttelte den Kopf.
»Er soll es sagen!« schrie Melissa und wandte sich den Männern aufrecht zu. »Er soll es sagen!«
Der Bürgermeister hinkte zu ihr und bückte sich ungeschickt zu ihr hinab. Er blickte Melissa ins Gesicht. Weder vergaß er sich noch scheute sie zurück.
»Ich sehe, daß du dich vor ihm fürchtest, Melissa. Warum fürchtet er sich nun vor dir?«
»Weil die Herrin Heilerin Schlange mir glaubt.«
Der Bürgermeister tat einen tiefen Atemzug. »Möchtest du bei ihm bleiben?«
»Nein«, sagte sie leise.
»Undankbares kleines Balg!« brüllte Ras. »Häßliches Scheusal! Wer außer mir würde dich jemals anrühren?«
Der Bürgermeister achtete nicht auf Ras und nahm Melissas Hand zwischen seine beiden großen Pranken. »Fortan ist die Heilerin dein Vormund. Es steht dir frei, mit ihr fortzugehen.«
»Danke. Danke, Herr.«
Der Bürgermeister richtete sich mühsam auf. »Brian, suche mir im Archiv ihre Vormundschaftsakte heraus. Hinsetzen, Ras! Und du wirst einen Boten in den Ort senden, Brian, zu den Besserern.«
»Sklavenhändler!« polterte Ras. »So also verschleppt ihr heutzutage die Kinder! Die Leute werden...«
»Halt dein Maul, Ras.« Die Stimme des Bürgermeisters zeugte von weit größerer Erschöpfung, als sie durch sein vorübergehendes Aufstehen erklärbar war, und er war blaß.
»Ich kann dich nicht verbannen. Mir obliegt die Verantwortung, für den Schutz anderer Menschen zu sorgen. Anderer Kinder. Deine Schwierigkeiten sind nun meine Schwierigkeiten, und sie müssen behoben werden. Also, wirst du dich an die Besserer wenden?«
»Ich brauche die Besserer nicht.«
»Willst du freiwillig zu ihnen gehen, oder müssen wir dich dazu verurteilen?«
Ras ließ sich auf dem Stuhl zusammensinken;
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