Traumschlange
fortschicken. Aber wenn es dies wollte, ließe ich ihm seinen Willen.«
Er lächelte Ras traurig zu.
»Du und ich haben ähnliche Probleme, mein Freund. Danke, daß du mich daran erinnert hast.« Er schob die Hände unter seinen Nacken und starrte für ein merkliches Weilchen hinauf an die Zimmerdecke.
»Sie können sie nicht fortgeben«, sagte Ras. »Es wäre das gleiche, als verkauften wir sie in die Leibeigenschaft.«
»Ras, mein Freund...«, sagte der Bürgermeister gedämpft.
»Versuchen Sie mir nichts anderes einzureden. Ich weiß es besser, und so dächten auch alle anderen.«
»Aber die Vorteile...«
»Glauben Sie etwa wirklich, jemand gäbe diesem armen kleinen Ding die Chance, eine Heilerin zu werden? Eine völlig verrückte Vorstellung.«
Melissa widmete Schlange rasch einen verstohlenen Blick, wie immer mit ausdrucksloser Miene, dann schaute sie wieder auf den Fußboden.
»Ich schätze es nicht, wenn man mich eine Lügnerin nennt«, sagte Schlange.
»Heilerin, Ras hat das nicht so gemeint, wie es sich vielleicht anhörte. Wir wollen uns nicht aufregen. Wir unterhalten uns ja hier nicht so sehr über wirkliche Dinge wie über ihren Eindruck. Der Eindruck ist überaus wichtig, er ist es, woran die Menschen glauben. Das muß ich berücksichtigen. Glaube nicht, es fiele mir leicht, in meinem Amt zu bleiben. Mehr als ein junger Heißsporn und auch ein paar ältere Knaben würden mich zu gerne verdrängen und aus diesem Haus werfen, ganz gleich, ob ich schon seit zwanzig Jahren hier wohne oder nicht. Der Vorwurf, ich hätte die Leibeigenschaft begünstigt...« Er schüttelte den Kopf.
Schlange sah eindeutig, daß er sich in eine Stimmung hineinsteigerte, die es ihm ermöglichen sollte, eine Weigerung auszusprechen, und sie wußte keinen Weg, um etwas daran zu ändern. Ras hatte genau gewußt, welche Einwände ihn am stärksten beeinflußten, wogegen sich Schlange darauf verlassen hatte, daß man ihr Vertrauen schenkte oder sich wenigstens ihrem Wunsch beugte. Aber ein weiteres Problem des Bürgermeisters war der mögliche Boykott Berghausens durch die Heiler, und daraus mochte sich in der Zukunft ein ernster Mißstand ergeben, zumal wenn man berücksichtigte, wie selten sich schon in den vergangenen Jahren Heiler im Ort hatten blicken lassen. Wenn der Bürgermeister es sich trotzdem leisten wollte, sich mit ihrem Ultimatum abzufinden, so konnte doch Schlange es sich andererseits nicht recht erlauben, ihm Wirksamkeit zu verleihen.
Sie durfte Melissa keinen weiteren Tag, keine weitere Stunde in Ras‘ Obhut lassen; sie hatte sie nun in zu große Gefahr gebracht. Und was noch schwerer wog, sie hatte ihre Abneigung gegen den Stallmeister gezeigt, so daß der Bürgermeister ihr wahrscheinlich nicht glaubte, falls sie jetzt noch irgendwelche Anschuldigungen gegen ihn erhob. Selbst wenn Melissa ihn beschuldigte, fehlten nach wie vor Beweise. Verzweifelt suchte Schlange nach einer anderen Möglichkeit, um Melissas Freiheit zu gewinnen; sie hoffte, daß sie dadurch, sie offen gefordert zu haben, nicht bereits alle Aussichten vordorben hatte. Sie sprach so gefaßt, wie sie es zustandebrachte.
»Ich ziehe mein Gesuch zurück.«
Melissa hielt den Atem an, blickte jedoch nicht auf. Die Miene des Bürgermeisters zeugte von Erleichterung, und Ras sank rücklings an die Stuhllehne.
»Unter einer Bedingung«, ergänzte Schlange. Sie schwieg einen Moment lang und überlegte sich gut, was sie äußern wollte, um nur unwiderlegbare Sachverhalte vorzutragen.
»Unter der Bedingung, daß sie mit Gabriel gehen darf. Er will nach Norden. Melissa soll ihn bis nach Mittenweg begleiten.«
Über Gabriels sonstige Absichten schwieg Schlange; sie waren ausschließlich seine Sache.
»Dort wohnt eine ausgezeichnete Lehrerin, und sie wird niemanden zurückweisen, der sich ihrer Anleitung anvertrauen möchte.«
Auf Melissas Hemd breitete sich vorn ein feuchter Fleck aus, während lautlos Tränen auf den groben Stoff tropften.
»Lassen Sie Melissa mit Gabriel ziehen«, sagte Schlange hastig. »Ihre Ausbildung dürfte mehr Zeit beanspruchen, weil sie so spät damit anfängt. Aber es muß im Interesse ihrer Gesundheit und Sicherheit sein. Auch wenn Ras sie so sehr liebt...« – sie verschluckte sich fast an dem Wort – »...daß er sie nicht in die Hände der Heiler geben will, wird er ihr das sicherlich nicht verwehren.« Ras‘ rötliches Gesicht erbleichte.
»Mittenweg?« Der Bürgermeister legte die Stirn in Falten. »Wir
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