Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
Ruhelosigkeit gepackt. Wenn die Nacht kommt, erkunden sie den Himmel. Aber nur ein Mond darf sich auf den Weg machen. Die Monde wissen aber nicht, daß auf der anderen Seite des Bergs ein Riese lebt. Und dann geschieht folgendes: Dieser Riese fängt jeden Mond, der das Tal verläßt. Er schneidet ihm jede Nacht eine Scheibe ab, bis nur noch ein schmales Stück übrig ist. Dann zerstückelt er die letzte Scheibe und verteilt die Stücke am Himmel, so daß Sterne daraus werden. Und dann …«
    McNeal und Adam warteten geduldig. Als Sarah schwieg, fragte Philip: »Wie endet die Geschichte?«
    Sarah dachte einen Augenblick nach und sagte schließlich: »Ich weiß es nicht mehr.«
    »Es ist eine schöne Geschichte«, sagte McNeal, »du kennst viele gute Geschichten. Vielleicht solltest du sie aufschreiben.«
    Sarah schüttelte den Kopf. »Es ist tabu, die Geschichten aufzuschreiben«, sagte sie.
    Philip sah der großen und schlanken Sarah bei der Arbeit zu. Sie war fünfzehn und hatte lange Glieder und eine dunkle Haut. Er fragte sich, wie sie wohl als Frau einmal aussehen werde. Dann dachte er an Blütenstaub im Wind und an die Nächte und Tage, die er mit ihr verbracht hatte. Erlebte sie dasselbe wie Sarah, fragte er sich, die die Geheimnisse ihres Volkes vergaß?
    Sarah spürte seinen Blick und konzentrierte sich darauf, die richtige Menge Tee in die Teekanne zu geben. In der Ferne hörte man Donnergrollen. Sie blickte aus dem Fenster und runzelte die Stirn. Ein böser Zauber ist heute abend am Wirken, dachte sie.
    Als habe Philip ihre Gedanken verstanden, sagte er: »Es ist nicht das erste Gewitter. Es wird schon alles gutgehen.«
    Aber Sarah schüttelte den Kopf und legte die Stirn in Falten.
    »Glaubst du, es wird heute nacht schlimmer als sonst werden?«
    Sarah wußte nicht, warum sie es wußte. Manchmal wußte sie einfach etwas. Ebenso erinnerte sie sich plötzlich an eine Geschichte oder an ein Geheimnis der Aborigines. Sie konnte sich nicht daran erinnern, die Geschichten von den Alten im Missionsdorf gehört zu haben; Sarah kannte sie trotzdem. So war es auch mit der Geschichte von den Monden. Die alte Deereeree im Dorf hatte ihr diese Geschichte nicht erzählt. Aber wer sonst, fragte sich Sarah. Woher kannte sie die Geschichte? Manchmal sah sie Bilder. Vor ihrem inneren Auge sah sie Menschen, Ereignisse und Szenen, die ihr unverständlich blieben. Sarah wußte, es waren keine Erinnerungen – zumindest nicht ihre eigenen. Und manchmal wußte Sarah ganz plötzlich etwas, wie zum Beispiel, als sie Joanna sagte, daß Blätter der wilden Geranie das Jucken eines Insektenstichs lindern. Joanna hatte sie gefragt: »Wer hat dir das gesagt?« Aber Sarah wußte es nicht.
    Hin und wieder machten diese verschwommenen Erinnerungen Sarah Angst. Sie schienen sie zu beherrschen, und sie vermochte sie nicht mehr unter Kontrolle zu halten. Es gab aber auch Zeiten, in denen Sarah sie als Trost empfand. In ihrem innersten Wesen wußte Sarah, sie gehörten zu ihrem Erbe.
    Sarah wünschte, es wäre ihr möglich gewesen, in das Missionsdorf zu gehen und mit den Alten zu sprechen. Ein paarmal hatte sie es getan. Sie verschwand, ohne Joanna zu sagen, wohin sie ging. Sie lief über die Felder und Weiden, mied die Straße und umging die Stadt, damit niemand sie sah. Vorsichtig und unbemerkt schlich sie sich auf das Gelände der Mission und ging zu den Alten. Sie sprachen dann eine Weile mit ihr, bis es zu gefährlich wurde, denn wenn Reverend Simms Sarah dort fand, wurde er auf die Alten sehr böse.
    Besuche in der Mission wurden immer schwieriger, und so fiel es Sarah auch schwerer, die Verbindung mit ihrem Volk aufrechtzuerhalten. Die alte Deereeree war tot, und die anderen fürchteten die Strafen, wenn man sie dabei ertappte, daß sie die Dinge der alten Zeit lehrten. Wenn Sarah jetzt im Missionsdorf erschien, traf sie auf ängstliche Gesichter, und die Alten blieben stumm.
    Es machte ihr Angst. Sie wollte den Kontakt zu ihrem Volk nicht verlieren. Sie begann bereits, viele der Geschichten zu vergessen. Sie kannte auch die Vorschriften und Tabus nicht mehr so genau. Sarah brauchte die Alten als Orientierung. Manchmal saß sie bei Ezekial und hörte ihm zu. Aber er gehörte zu einem anderen Träumen, und er war ein Mann. Er konnte sie die Geheimnisse der Frauen nicht lehren. Mehr und mehr wünschte Sarah, sie wäre als vollwertiges Mitglied der Sippe eingeweiht worden.
    Sarah hörte, wie Philip McNeal sich im Zimmer bewegte. Er

Weitere Kostenlose Bücher