Traumzeit

hielt Joanna den Wagen an und holte das Tagebuch heraus. Im Licht der frühen Sonne schrieb sie: › 12 . März, 1880 : Fanny Drummond ist wieder einmal von ihrem Mann geschlagen worden. Diesmal mußte ich nähen.‹ Alles andere hielt sie nicht fest. Die Weitergabe von Informationen über Empfängnisverhütung war illegal und wurde vom Gesetz bestraft. Joanna wußte, sollte das Tagebuch einmal in die falschen Hände geraten, wären sie und Fanny in ernsten Schwierigkeiten, wenn sie solche Dinge notiert hätte.
    Joanna blickte über das hügelige Land. Bald mußten die herbstlichen Regenfälle einsetzen. Aber der wolkenlose Himmel schimmerte wie eine blaue Porzellanschale. Die Luft war selbst zu dieser frühen Stunde ungewöhnlich trocken, als liege eine sommerliche Hitzewelle über dem Land. Soweit das Auge reichte, war das Gras gelb und trocken. In der Ferne entdeckte sie eine kleine Schafherde, die langsam vorüberzog. Joanna fügte ihrem Eintrag hinzu: ›Ich fürchte, die vorausgesagte Trockenheit wird uns bald zu schaffen machen. Dann hat Fanny Drummond noch größere Probleme. Nach meiner Meinung gehörte Mike Drummond zu den Männern, die ihre Familie im Stich lassen, wenn schwere Zeiten kommen.‹
    Das Tagebuch gehörte Joanna. Hugh hatte es ihr nach der Geburt von Lisa, ihrem ersten Kind, geschenkt. Das war vor sechseinhalb Jahren gewesen. Joanna hielt darin alles fest – Ereignisse, Beobachtungen, Gedanken und alle Details, wenn sie jemanden behandelte. Dieses Buch enthielt die Geschichte der Familie Westbrook. Es berichtete von der Geburt des zweiten Kindes, Edward, 1874 , und seinem Tod im folgenden Sommer, von zwei Fehlgeburten und der Geburt von Joannas letztem Kind. Es war ein Junge gewesen, der ebenfalls nicht überlebte. Auf seinem Grabstein stand: › SIMON WESTBROOK , gestorben 1878 im Alter von drei Monaten.‹ In dem Buch mit dem Saffianledereinband war aber auch ausführlich die Geschichte des Lebens im westlichen Distrikt festgehalten, zum Beispiel: › 14 . Januar, 1874  – die Diphtherie hat in Cameron Town vierzehn weiteren Kindern das Leben gekostet. Ich habe mich dafür ausgesprochen, eine unterirdische Kanalisation zu bauen, denn zur Zeit laufen alle Abwässer offen die Hauptstraße entlang.‹ › 10 . November, 1876  – ein Buschfeuer hat über einhunderttausend Morgen Land verwüstet. Gracemere und Strathfield waren davon am meisten betroffen.‹ › 30 . Mai, 1877 : War auf der Hochzeit von Verity Campbell mit Wachtmeister McManus. Es war ein schönes Fest mit über zweihundert Gästen.‹ › 12 . November, 1878  – Jacko Jackson hat aufgegeben und Hugh seine siebentausend Morgen Land überlassen als Bezahlung der Schulden. Jacko und seine Familie sind auf Merinda eingezogen. Er wird Hughs Vormann und Mrs. Jackson unsere Köchin.‹
    Das Tagebuch war auch eine Chronik der Suche nach der Vergangenheit ihrer Mutter.
    Joanna notierte sehr genau, mit wem sie wann Kontakt aufgenommen hatte und mit welchen Ergebnissen. Als Bowman’s Creek und Durrebar trotz aller Bemühungen nicht aufzufinden waren, hatte sie noch einmal Miss Tallhill in Melbourne geschrieben und gefragt, ob sie sich möglicherweise geirrt habe. Aber man teilte Joanna mit, Miss Tallhill sei ihrer Gesundheit wegen in den Norden gezogen, und man habe nie wieder etwas von ihr gehört. Am 25 . Juli 1877 hatte sie geschrieben: ›Ich habe wieder einen Brief von Patrick Lathrop aus San Francisco erhalten. Sein schlechter Gesundheitszustand hindert ihn daran, der Entschlüsselung der Stenographie meines Großvaters soviel Zeit zu widmen, wie er möchte. Aber er hat versprochen, sich weiterhin damit zu beschäftigen.‹ Kurz danach notierte sie: ›Mein letzter Brief an Patrick Lathrop kam mit dem Vermerk zurück: ›Der Adressat ist verstorben.‹ In das Tagebuch hatte Joanna auch verschiedene Briefe an Missionsgesellschaften, Reedereien und an Tante Millicent in England übertragen. Tante Millicent beantwortete Joannas Briefe zwar immer, erwähnte aber niemals ihre Schwester Naomi oder Joannas Mutter, Lady Emily, die bei ihr aufgewachsen war. Sie äußerte sich auch nicht über das Thema Karra Karra und die Ereignisse dort.
    Im Tagebuch bewahrte Joanna auch Landkarten auf, die sie anhand der Informationen in der Urkunde gezeichnet hatte, wobei sie versuchte, die Lage von Durrebar und Bowman’s Creek im Verhältnis zueinander darzustellen. Sie hatte Hugh und Frank Downs die Karten in der Hoffnung gezeigt, die