Traumzeit
beiden könnten vielleicht etwas erkennen, das ihnen vertraut war. Sie meinten jedoch nur, der Urkunde nach müsse es sich um ein sehr großes Stück Land handeln. Und wenn sie es je fand, könne sich herausstellen, daß es sehr viel wert sei. Joanna hatte daraufhin die zwölftausend Meilen lange Küste von Australien sehr genau studiert und kopiert, sie abschnittsweise mit ihren Karten verglichen, um vielleicht zufällig eine Ähnlichkeit zu entdecken. Aber es fehlte immer der entscheidende Schlüssel – der Hafen, in dem ihre Großeltern an Land gegangen waren.
Joanna hatte auf vielen Seiten im Tagebuch auch selbst versucht, die Kurzschrift von John Makepeace zu entziffern. Alle Bemühungen führten jedoch nur zu Kauderwelsch. Schließlich hatte sie alle Hinweise aus dem Tagebuch ihrer Mutter und aus allen anderen Quellen systematisch geordnet. Aber die Liste war dürftig und hatte ihr bisher keine Erkenntnisse gebracht.
Als sie jetzt das Tagebuch wieder in die Tasche legte, stellte sie fest, daß Sarah sie prüfend ansah. »Was ist los?« fragte Joanna.
»Das wollte ich dich eigentlich fragen. Du reibst dir ständig die Stirn.«
»Wirklich? Das ist mir nicht aufgefallen.«
»Du hast Kopfschmerzen, nicht wahr?« fuhr Sarah fort, »und du schläfst in letzter Zeit nicht gut. Ich habe dich mitten in der Nacht auf der Veranda gehört. Was ist los, Joanna? Warum kannst du nicht schlafen?«
Joanna blickte zu den Bergen im Osten und sah, wie das gelbe Licht der Sonne den Himmel zart blau färbte, und sie dachte an die Freude, die ihr in den vergangenen Jahren gewährt war – an das Leben mit Hugh. Sie dachte auch an Lisa, ihr sechseinhalbjähriges Töchterchen und an Adam, der zu einem völlig gesunden Jungen heranwuchs. In den vergangenen Jahren hatte sie das schreckliche Erbe nicht vergessen – den Gift-Gesang, die Angst, daß das Unheil sie jederzeit wieder treffen könnte. Aber die Alpträume waren verschwunden und der Drang, Karra Karra zu finden, hatte etwas weniger auf ihr gelastet. Jetzt stellten sich die Träume plötzlich wieder ein und mit ihnen die alten Ängste.
»Ich habe wieder Alpträume, Sarah«, sagte sie, »wieder wie früher … Ich träume von wilden Hunden, von der Regenbogenschlange und der Höhle in dem roten Berg. Beim Aufwachen habe ich nicht nur Angst, sondern fühle mich geradezu getrieben, dorthin zu gehen, wo immer diese Dinge sich ereignet haben mögen, um mich endlich einer Sache zu stellen …, aber ich weiß nicht welcher. Derselbe Druck lastete am Ende ihres Lebens auf meiner Mutter.«
»Wann haben die Alpträume wieder eingesetzt?«
Joanna dachte einen Augenblick nach. »Kurz vor dem Scheren der trächtigen Schafe, glaube ich. Ja, richtig, etwa vor einem halben Jahr.«
»Hast du eine Vorstellung, was die Ursache dafür sein könnte?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe notiert, wann es das erste Mal wieder auftrat …« Sie holte das Tagebuch aus der Tasche und blätterte darin. »Ja, hier steht es, es war in der Nacht von Lisas Geburtstagsfeier.« Sie runzelte die Stirn. »Seltsam …«
»Wieso?«
»Mir fällt gerade etwas ein …« Sie sah Sarah an. »Die Alpträume meiner Mutter begannen, als
ich
sechs wurde. Offenbar muß sich dieser Zeitpunkt in mir festgesetzt haben. Ich hatte eine Stelle über die Träume meiner Mutter gelesen. Vielleicht entstehen sie in meinem Innern wieder oder werden von ihm geschaffen.«
Die beiden Frauen saßen schweigend im Wagen, während das Land um sie herum lebendig wurde. Ein Rieseneisvogel flog lachend über sie hinweg. »Sarah, wie kann ich etwas träumen, das ich nie erlebt habe? Habe ich die Erinnerungen meiner Mutter geerbt? Oder sind meine Träume Erinnerungen an das, was meine Mutter mir vor langer Zeit erzählt hat?«
»Es ist nicht wichtig, ob die Träume auf wirklichen Ereignissen beruhen oder nicht«, erwiderte Sarah, »auch nicht, ob es den Gift-Gesang gibt oder nicht. Mir scheint, die Wirkung ist wichtig. Wenn dein Bewußtsein davon überzeugt ist, daß etwas Unheilvolles geschehen wird, dann geschieht es vermutlich auch.«
Joanna ließ den Kopf hängen. »Und wird sich dann alles wiederholen? Wird Lisa das erleben, was ich mit meiner Mutter erlebt habe? Ich sehe, wie sich ein Schema abzuzeichnen beginnt, Sarah. Ich hatte früher nie Angst vor Hunden, aber jetzt habe ich Angst vor ihnen. Ich hatte früher nie Alpträume, aber jetzt habe ich welche. Was wird als nächstes geschehen? Und was kann ich tun,
Weitere Kostenlose Bücher