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Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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vor einem der vielen Fotoateliers, die überall in Melbourne aus dem Boden schossen. Das neue Trockenplatten-Verfahren und die kürzeren Belichtungszeiten bescherten den Fotografen einen Boom. Früher hatten die Leute für ein Porträt gesessen oder die Maler in ihre Häuser bestellt, um Ansichten malen zu lassen, jetzt stellten Männer mit Kästen und Stativen in kürzerer Zeit und für weniger Geld wirklichkeitsgetreue Fotografien her.
    Ivy wußte, die meisten Maler lehnten die neue Technik, die Fotografie, kategorisch ab. Sie fürchteten, ihre Profession könnte dem Fortschritt zum Opfer fallen und aussterben. Deshalb behaupteten sie, eine Fotografie sei ›seelenlos‹, und kein Fotograf habe einen eigenen Stil. Das stimmte gewissermaßen. Aber Ivy gefielen Fotografien. Ihr gefielen der Realismus und die Präzision. Ganz gleich, wie gut ein Maler war, er konnte niemals die Einzelheiten ganz so genau einfangen, wie es eine Fotografie tat. Andererseits, so räumte sie ein, während sie vor dem Schaufenster des Ateliers stand und die ausgestellten Fotos betrachtete, hatten die Bilder etwas Flaches an sich. Zum einen wirkten sie statisch und leblos, und zum anderen fehlte ihnen die Farbe. Und das war schade. Denn in der Natur hatte alles Farbe. Selbst in den trostlosesten Dingen gab es Farbe, und das konnten – bei Stürmen, im tobenden Meer, bei den Schatten hinter Türen – die dramatischsten und eindrucksvollsten Farben sein. Und die Gesichter der Menschen, dachte Ivy beim Anblick einer Porträtaufnahme, sind ganz bestimmt nicht schwarz und weiß. Wo war das Fleisch dieses Mannes? Welche Farben hatten seine Augen? Waren seine Lippen weiß oder grau oder rosa? War er bei guter Gesundheit oder war er krank? Die Fotografie ließ vieles aus.
    »Kann ich Sie für ein Porträt interessieren, Madam?«
    Überrascht drehte Ivy sich um und sah einen Mann in einem großkarierten Jackett vor sich. Er trug keinen Hut, denn er kam geradewegs aus dem Geschäft.
    »Mir ist aufgefallen, daß Sie schon lange hier stehen und meine Bilder betrachten«, sagte der Mann lächelnd. »Denken Sie daran, sich fotografieren zu lassen? Ich bin Al Gernsheim, und ich kann Ihnen versichern, meine Preise sind die günstigsten in ganz …«
    »Sie sind ohne Leben.«
    »Wie bitte?«
    »Ihre Bilder sind ohne Leben.«
    Er sah sie mit großen Augen an. »Wie können Sie so etwas sagen, Madam? Sie sind direkt dem Leben entnommen!«
    »Ich meine, sie sind ohne Farbe. Und das Leben ist farbig oder?«
    Er runzelte die Stirn. »Niemand kann Farbaufnahmen machen. Eines Tages wird es vielleicht möglich sein. Aber heute noch nicht.«
    »Das ist schade«, sagte Ivy leise. »Dieses Foto dort, der Eukalyptusbaum in der Landschaft … gewiß, es ist ein hübsches Bild. In Farbe wäre es sehr viel eindrucksvoller. Aber … ein weißer Himmel, weißer Sand und ein schwarzer Baum?« Sie schüttelte den Kopf. »Das Bild braucht das Blau des Himmels über dem Busch, die Goldtöne der Landschaft und die dramatischen Schattierungen der Eukalyptusrinde. So könnte es überall aufgenommen sein oder etwa nicht?«
    »Doch«, sagte der Fotograf mit einem Seufzer. »Das könnte es. Und dabei ist es eines meiner besten Bilder. Ich habe es in Tumbarumba aufgenommen.«
    »Es ist schön«, sagte Ivy und dachte plötzlich an eine von Hugh Westbrooks Balladen. Diese Fotografie, dachte sie, hat etwas vom selben Geist.
    Ihr kam eine Idee. »Wie lange steht das Bild schon im Fenster?«
    »Seit ich es vor einem Jahr aufgenommen habe. Bis jetzt hat sich noch kein Mensch dafür interessiert.«
    Ivy sah ihn an und spürte, daß sie ganz aufgeregt wurde. »Wenn ich darf, würde ich es gerne haben. Wieviel kostet es?«
    Der Mann nannte ihr den Preis, und Ivy mußte ernsthaft überlegen. Es war ein Glücksspiel mit einem hohen Einsatz, und es gab keine Garantie für den Ausgang. Aber welche anderen Chancen hatte sie? Manchmal mußte man eben ein Risiko eingehen – Frank sagte das immer.
    Sie kaufte die Landschaftsaufnahme und trug sie zurück in die Wohnung in der Elizabeth Street. Dort zog sie sich um, stellte das Bild auf die Staffelei im Atelier und machte sich daran, die Farben vorzubereiten. Dieses eine Mal würde sie nicht mit den teuren Ölfarben arbeiten, sondern mit Aquarellfarben. Noch ehe sie den ersten Pinselstrich getan hatte, wußte sie bereits, mit ihrer Idee würde sie Erfolg haben.
    Drei Tage später starrte der verblüffte Al Gernsheim auf das verwandelte Bild.

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