Traumzeit
Ich sehe nichts.«
»Sehen Sie dorthin«, sagte Sarah und deutete auf einen kleinen, grasbewachsenen Hügel flußaufwärts. »Dort hat die Känguruh-Ahne geschlafen. Sehen Sie die großen Hinterbeine, ihren langen, breiten Schwanz, ihren kleinen Kopf?«
Joanna kniff die Augen zusammen. Zuerst sah sie nichts, aber dann glaubte sie in dem Hügel die Kontur eines Känguruhs ausmachen zu können – das heißt, sie stellte sich vor, es zu können.
Sarah begann plötzlich zu singen.
Joanna fragte: »Was machst du?«
»Ich singe. Wir werden das Känguruh-Träumen singen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Sarah zeichnete mit einem Stöckchen Linien, Kreise und Punkte auf den Boden. Sie sagte: »Das ist der Weg der Känguruh-Ahne. Sie kommt von hier, sehen Sie? Und sie geht dorthin. Sehen Sie?«
Aber Joanna sah nur Linien, Kreise und Punkte.
Die Stimme des Mädchens zog sie in ihren Bann. Die Hitze des Nachmittags legte sich drückend auf den Wald. Joanna fühlte sich körperlos. Die Bäume und der Fluß wurden plötzlich unwirklich. Ein traumähnlicher Zustand erfaßte sie. Sarah schien vor ihren Augen alt zu werden. Sie sang Worte, die Joanna nicht verstand, aber der Rhythmus drang in sie ein. Sie spürte ihn in den Adern, sie sah ihn hinter den Augen. Es waren alte Worte, älter als die Zeit. Sie sangen, erzählten, ließen im Singen die Vergangenheit lebendig werden.
Joanna schloß die Augen. Sie spürte eine bleierne Hitze. Plötzlich sah sie kahle, rote Berge und Feuer, das aus der Erde aufstieg. Vögel flogen in großen Scharen durch die Luft. Sie sah deutlich die Silhouetten von großen und starken Menschen vor dem Himmel. Sie liefen mit erhobenen Speeren durch eine karge Landschaft und senkten die Arme in einem uralten Rhythmus. Und dann sprangen riesengroße Wesen über das Land. Sie hatten große Hinterbeine und kleine Köpfe – es waren Känguruhs, zahllose Känguruhs. Ihre Menge verdunkelte den Horizont. In großen, weiten Sätzen zogen sie über die endlose, rote Ebene. Die Menschen folgten ihnen ehrfürchtig. Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen durch die Zweige der Bäume. Das Summen und Brummen der Fliegen und zahllosen anderen Insekten erfüllte die Luft. Joanna versuchte, ihre Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. Wieso kann ich diese Bilder sehen, überlegte sie verwirrt. Dann erinnerte sie sich an eine Stelle im Tagebuch ihrer Mutter. Dort beschrieb sie einen ihrer erstaunlichen Rückerinnerungsträume: ›Gestern nacht habe ich von Känguruhs geträumt. Große Känguruh-Herden zogen über eine rote Ebene. Dort sah ich auch den roten Berg, den ich aus anderen Träumen kenne. Und vor dem roten Schein der Sonne hoben sich die dunklen Umrisse von Menschen ab. Wäre es möglich, daß ich einmal eine solche unwirkliche Szene erlebt habe?‹
Als Sarah den Gesang beendete, fragte Joanna: »Was kannst du mir über die Regenbogenschlange sagen?«
Sarah antwortete: »Die Regenbogenschlange ist sehr mächtig. Sie gehört zu den Geheimnissen der Frauen, zu dem Träumen der Frauen.«
»Haben Frauen ein eigenes Träumen?«
»Ja«, antwortete Sarah, »Frauen haben ihre eigenen Traumpfade – wir haben mehr Macht als die Männer, denn wir haben das Leben in uns. Ich kann Ihnen das sagen, Joanna, weil Sie eine Frau sind. Jungen müssen sehr viel mehr Prüfungen bestehen, ehe sie Männer werden. Sie müssen Schnitte und Bluten ertragen. Mädchen nicht, denn in ihnen ist bereits das Leben. Sie werden ohne solche Prüfungen zu Frauen.« Sie schwieg. Dann sah sie Joanna an und sagte: »Meine Mutter war eine Hüterin der Gesänge. Sie hütete die geheimen Mythen und Riten der Frauen, und sie sang die Frauen-Rituale. Wenn die Weißen nicht gekommen wären, wäre ich auch eine Hüterin der Gesänge.«
»Gehörst du auch zum Känguruh-Totem?«
»Nein«, erwiderte Sarah, »meine Ahne war die Bärenrobbe, und deshalb habe ich das Bärenrobben-Träumen. Und das ist sehr weit von hier. Eines Tages werde ich meinen Traumpfaden folgen. Ich werde in den Spuren der Ahne gehen und mein Träumen finden.«
»Du hast gesagt, deine Ahne war die Bärenrobbe.« Joanna sah Sarah nachdenklich an. »Bedeutet das, du stammst von einer Bärenrobbe ab?«
Sarah lächelte und erwiderte: »In der Traumzeit sprang die Bärenrobben-Ahne aus den südlichen Gewässern. Sie sang sich in das Dasein. Sie lehrte ihre Kinder den Bärenrobben-Gesang. Der Gesang wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben. Es war immer
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