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Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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derselbe Gesang durch alle Zeiten hindurch, und so kam er zu mir.«
    »Aber«, sagte Joanna, »warum bist du dann keine Bärenrobbe?«
    »Weil wir uns verwandelt haben. Wir sind an Land gegangen und allmählich zu Menschen geworden. Aber mein Träumen ist noch die Bärenrobbe, auch wenn ich jetzt ein Mensch bin. Sie kennen doch Ezekial, den alten Fährtensucher. Er hat das Emu-Träumen. Und die alte Deereeree in der Mission hat das Kakadu-Träumen. Wir stammen von diesen Ahnen. Ezekial wird deshalb nie Emufleisch essen oder Emufedern tragen, und die alte Deereeree wird nie einen Kakadu essen. Und ich werde nie eine Bärenrobbe töten oder Robbenfleisch essen oder Robbenfell tragen.«
    Joanna dachte nach. Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich verstehe immer noch nicht, was das Träumen ist.«
    »Das Träumen verbindet uns mit den Müttern, die vor uns kamen, und mit den Töchtern, die noch nicht geboren sind. Meine Mutter hat mir ihr Träumen gesungen, so wie es Ihre Mutter getan hat, und jede Mutter bis zu den Ahnen, die die ersten Gesänge gesungen haben. Ich werde meinen Töchtern mein Träumen singen. So werden sie durch mich mit allen anderen Müttern vor mir mit dem Bärenrobben-Träumen der Ahne verbunden sein.«
    Joanna sagte: »Mein Volk kennt das nicht. Meine Mutter hat mir nie ihr Träumen gesungen.«
    Sarah lächelte: »Aber ja doch. Sie haben das Träumen Ihrer Mutter. Es steht in dem Buch, in das Sie schreiben.«
    »Du meinst ihr Tagebuch?«
    »Ja, es ist ihr Traumpfad. Und Sie schreiben Ihre Gesänge hinein. Sie setzen das Träumen Ihrer Mutter fort. Sie müssen das für Ihre Tochter vorbereiten.«
    Joanna war fasziniert. Als Hugh mit ihr über Traumpfade sprach, hatte sie sich etwas Materielles darunter vorgestellt – etwas Ähnliches wie Wege, die durch Wälder führen und durch Hinweisschilder gekennzeichnet sind. Aber langsam begriff sie, daß gesungene Wege sehr viel mehr waren – sie konnten so einfach sein wie ein Tagebuch oder ein Briefwechsel zwischen einer Mutter und ihrer Tochter. Über Traumpfade wurden der Geist, die Weisheit und die Gefühle weitergegeben. Man konnte sich darunter vielleicht Seelenketten vorstellen. Lady Emily hatte in ihrem Tagebuch einmal notiert: ›Wenn ich über meine Mutter schreibe, habe ich das Gefühl, als sei sie bei mir, als sei sie noch immer am Leben, obwohl ich mich nicht an sie erinnern kann.‹ So gesehen, konnte Joanna zum ersten Mal auch die Bedeutung von Sarahs Worten erahnen: »In das Dasein singen.« Es war die Macht der Bewußtseins, etwas zu erschaffen.
    »Wo ist deine Mutter jetzt?« fragte sie Sarah.
    »Sie ist aus dem Missionsdorf davongelaufen, um zu ihrer Sippe zurückzukehren. Aber der Hüter der Gesänge sagte, sie habe den Weißen unsere Geheimnisse verraten. Deshalb hat er einen bösen Zauber über sie gesungen.«
    Joanna lief ein Schauer über den Rücken. »Meinst du einen Gift-Gesang?«
    »Ja.«
    »Und … ist sie gestorben?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht wird sie zurückkommen. Eine Hüterin der Gesänge ist dazu in der Lage.«
    »Sarah«, sagte Joanna leise. »Meine Mutter hat von Gift gesprochen. Wäre es möglich, daß sie durch einen Gift-Gesang gestorben ist? Aber der Gesang hätte dann ihrer Mutter gegolten, nicht ihr – also meiner Großmutter.«
    Sarah erwiderte: »Der Großmutter-Geist ist sehr mächtig.«
    »Sarah, wenn du mich ansiehst«, fragte Joanna mit trockenem Mund, »siehst du dann Unglück um mich? Siehst du einen Gift-Gesang?«
    »Still!« Sarah hob abwehrend die Hand. Sie sah sich prüfend um und stand langsam auf. Auch Joanna erhob sich. Sie sah Ezekial zwischen den Bäumen näherkommen. Er trug einen Bumerang – einen ähnlichen hatte sie in Frank Downs’ Bibliothek an der Wand hängen sehen. Ezekial trat zu Sarah und sagte ruhig: »Tabu.«
    Dann wandte er sich an Joanna und sagte: »Geh. Dieser Ort ist nicht für dich. Du hörst Tabu. Du bringst bösen Zauber.«
    Sarah sagte: »Nein, alter Vater, es ist für sie nicht tabu.« Die Augen des alten Mannes zuckten kurz vor Überraschung.
    »Du sprichst Tabus aus, Kind«, wiederholte er.
    Joanna bemerkte, wie Sarah zu zittern begann. In ihren Augen lagen Angst und Trotz. Ezekial konnte man anmerken, daß er Widerspruch nicht gewohnt war.
    »Schlimme Dinge werden geschehen«, sagte er. Obwohl Ezekial die Stimme nicht hob, ahnte Joanna seinen Zorn und spürte, daß auch er Angst hatte. Sein Gesicht blieb jedoch unbewegt wie eine Maske, und er

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