Treffpunkt Irgendwo
Doch der Großteil lebt irgendwo in einem der Hochhäuser, haben inzwischen selbst Kinder und sind auf Hartz IV. Das will ich nicht. Dann lieber so. Einfach herumsitzen und TV glotzen, wozu lebt man da, da ist man doch schon tot.
Daher bin ich damals einfach weg. Hamburg, Amsterdam, Paris. Ich war in Polen, in Dänemark, sogar bis nach Spanien habe ich es geschafft. Klar haben die mich immer wieder irgendwo abgegriffen, zurück nach Köpenick gebracht, zu meinen Eltern, in irgendeine Einrichtung. Aber am nächsten Tag bin ich meist wieder los. Irgendwann war ich dann dieses Herumreisen satt. Wollte meine festen Leute haben. So bin ich wieder in Berlin gelandet.
Meine Eltern habe ich vor einem Jahr das letzte Mal gesehen. Meine ältere Schwester kommt ab und zu am Alex vorbei. Dann lädt sie mich manchmal auf einen Kaffee ein. Sicher, wenn ich wollte, dann könnte ich vermutlich schon zu der und ihrer Familie. Und auch meine Eltern würden mich sicher wieder aufnehmen. Doch das kann ich nicht mehr. Ich kann da einfach nicht mehr zurück. Das ist mir zu eng.
Klar, so wie ich lebe, das ist nicht immer leicht. Ist schon kacke, wenn du siehst: Wieder einer im Knast, wieder einer am Blechrauchen, an der Spritze und dann hörst du, der auf der Platte, der ist tot.
Also wenn ich mal draufgehen sollte, dann ist daran niemand schuld. Und erst recht nicht meine Familie. Es hat einfach mit uns nicht gepasst. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben vielleicht. Aber hier und jetzt eben nicht.
Dumm gelaufen.
Len
Kapitel 6
D ie anschließenden Tage war ich total neben mir. Ich kannte mich selbst nicht mehr, traute mir nicht mehr über den Weg. Was war da mit mir geschehen, wie hatte ich das zulassen können? Wo war die alte Jana?
Ich war so wütend auf mich.
Natürlich fiel das irgendwann den Menschen in meiner Umgebung auf. Mia fragte mich, was mit mir los sei. Doch ich sagte nur: »Nichts, alles okay. Ich glaube, ich brüte eine Erkältung aus.«
Dass, was mich ununterbrochen beschäftigte, wollte ich vorerst geheim halten. Ich wusste noch nicht genau, warum ich dies tat, aber ich wollte diese Gefühle nicht teilen. Früher hätte ich gar nicht lange überlegt und wäre gleich zu Mia gefahren und hätte mich ausgeheult. Aber das hier war anders. Wenngleich die Gefühle wehtaten, so waren sie doch auch ein Schatz, den ich behüten musste. Zu neu und zu groß war das, was ich fühlte. Sicher, es ballte sich schmerzhaft im Magen, aber dann wiederum war es so schön. Ein neues, schier unfassbares Glücksgefühl hatte mich überrollt. Etwas Derartiges hatte ich noch nie zuvor erlebt. Es war der Hammer.
Ein total neues Gefühl.
Es war, als ob jemand in meinem Kopf einen Schalter umgelegt hätte. Wenn mich jemand noch am Nachmittag vor dem Konzert gefragt hätte, wie sieht Len aus, dann hätte ich ihm geantwortet: groß, blonder Iro, halt wie ein Punk. Ich glaube, ich hätte weder die Augenfarbe noch die Form seiner Nase beschreiben können.
Und wenn mich nun jemand gefragt hätte, so hätte ich Len mit verbundenen Augen malen können. Seine Augen waren graublau, mit kleinen hellblauen Einschlüssen im linken Auge. Die Nase schmal, klassisch geformt, leicht nach links geknickt, er hatte zwei Grübchen schräg oberhalb der Mundwinkel. Sein Mund war groß, eigentlich zu groß für sein schmales Gesicht. Wenn er die Stirn runzelte, dann bildeten sich oberhalb seiner Augenbrauen zwei L-förmige Falten. Vermutlich war seine echte Haarfarbe dunkelblond, zumindest verrieten das die dünnen Augenbrauen, der blonde Iro musste gefärbt sein. Seine Ohren waren ebenmäßig geformt, die Ohrläppchen nicht angewachsen. Was wichtig war, ich fand angewachsene Ohrläppchen ekelhaft. Im linken Ohr hatte er ein Piercing, eine schwarze Schraube mit Mutter.
Seine Hände waren schmal, die Finger feingliedrig, auf dem Handrücken der rechten Hand schräg oberhalb vom Daumen eine etwa drei Zentimeter lange Narbe.
Ihm fehlten ein Backenzahn und der linke obere Schneidezahn – und wenn er lächelte, dann ging die Sonne auf.
An der Litfaßsäule vor unserer Schule hing dieses Werbeplakat einer Partnervermittlung. Ein knackiger Kerl, darunter der Spruch »Irgendwo in dieser Stadt gibt es den einen«.
So war es. Ich wusste nicht genau, wo, aber ich wusste, es gibt ihn. Ich wusste sogar, wie er aussah, wie er mit Vornamen hieß.
Ich war wie im Rausch. Was sollte ich denken, welche Gefühle durfte ich zulassen, welche Gefühle nahmen
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