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Treffpunkt Irgendwo

Titel: Treffpunkt Irgendwo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Fuchs
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ich nicht verdient. Und so jemanden wollte ich auch nicht. Und doch wusste ich, es war so. Da brauchte ich nur an seine Augen denken, sein Lächeln, seine Hände und wie er mir damals am Alex hinterhergesehen hatte. Schon allein der Gedanke an ihn machte mich bereits fertig. Ich hätte vor Glück heulen können, wäre am liebsten beim nächsten Stopp aus der U-Bahn gesprungen, mit der ersten Bahn zurück und hätte ihn umarmen, ihn drücken, in ihn hineinkriechen können.
    Ich war total neben der Spur. Zum ersten Mal in meinem Leben passierte mir an diesem Abend etwas, was ich bislang nur aus Erzählungen kannte und wovon ich nie gedacht hatte, dass jemandem, und erst recht nicht mir, so etwas wirklich unterlaufen könnte.
    »Mädchen, Endstation!« Der S-Bahn-Führer berührte mich an der Schulter. Ich schreckte aus meiner Trance hoch und wirklich, ich hatte vergessen auszusteigen. Ich war in Blankenfelde, Endstation, Landkreis Teltow-Fläming, einem Nest außerhalb von Berlin.
    »Entschuldigen Sie…« Ich sprang von meinem Sitz auf und wusste nicht, was ich zu dem müde aussehenden großen Mann in der blauen Uniform sagen sollte.
    »Eingeschlafen, wa?«
    Ich nickte.
    »Na denn, bleib ebend einfach sitzen, ick fahr gleich zurück.« Er deutete hinaus. »Steig ma lieber nich aus. Da draußen is echt der Arsch der Welt, wa?«
    Dann verschwand er langsam durch den Mittelgang zum Fahrerstand.
    Ich setzte mich wieder, zog mein Handy aus der Manteltasche und sah nach der Uhrzeit. Es war halb zwölf.
    Ich überlegte, ob ich Mia anrufen sollte, doch ich steckte mein Handy wieder weg. Ich wollte im Grunde mit niemandem reden. Was hätte ich auch schon sagen sollen. Dass ich mich wider Willen in einen verliebt hatte, der auf der Straße lebte. In einen jugendlichen Penner.
    Ich wusste nichts über Len. Nicht einmal, wo er herkam, wie alt er war. Es konnte sein, dass er krank war, Aids hatte, irgendeine psychische Störung, er konnte ein Gewaltverbrecher sein, jemand, der andere zusammenschlug, was wusste ich denn.
    Nichts.
    Und doch alles. Ich wusste genau, Len war nichts von alledem. Er war einer, den es irgendwie aus der Bahn geworfen hatte, vielleicht hatte er einen Vater, der ihn so oft geschlagen hatte, bis Len es nicht mehr ausgehalten hatte und weggerannt war. Womöglich war er im Heim gewesen, hatte gar keine Eltern mehr. Ich war mir sicher, so wie er augenblicklich lebte – das war das Ergebnis einer schlimmen Kette von Schicksalsschlägen. Hätte auch jeden anderen aus der Bahn geworfen, Len konnte da nichts dafür. Nichts, garantiert gar nichts. Das sagte mir mein Herz.
    Mein Bewährungshelfer hat gesagt, ich solle mal meine Geschichte aufschreiben. Dazu hatte ich eigentlich keine Lust. Das können die vom Gericht doch alles in meiner Akte nachlesen.
    Aber dann habe ich mich doch entschieden, was aufzuschreiben. Wenn es mit mir schiefgehen sollte, dann bin ich wenigstens nicht total weg.
    Ich bin in Berlin-Köpenick geboren. Meine Eltern sind beide Ingenieure. Ich habe drei Geschwister. Zwei ältere Brüder, eine noch ältere Schwester. Die haben alle inzwischen eigene Familien. Meine Eltern haben den Abgang der DDR nie richtig verkraftet. Die sind nie im neuen Deutschland angekommen. Aber sie waren okay, halt schon etwas alt, inzwischen beide auf Rente.
    Mit mir konnten sie nie viel anfangen. Als ich in der Grundschule war, da waren sie irgendwie eher mit sich selbst beschäftigt. Die haben nichts dazu gesagt, dass ich nie meine Hausaufgaben machte. Die haben auch nichts gesagt, als ich bereits in der dritten Klasse regelmäßig geschwänzt habe. Das war kurz nach der Jahrtausendwende, da waren irgendwie alle mit sich selbst beschäftigt. Meine Eltern, meine älteren Geschwister, ich lief so nebenher. Meine älteren Geschwister waren noch im System der DDR erzogen worden, Kita, Schule, Hort. Bei mir gab es das schon nicht mehr. Aber was anderes gab es auch nicht. Nicht nur ich habe damals tierisch geschwänzt. Die meisten aus meiner Klasse. Und die Lehrer waren Luschen. Die hatten alle Angst wegen Stasivergangenheit und so und haben den Mund gehalten. Die haben wir reihenweise fertiggemacht, die waren froh, wenn sie die Schulstunden irgendwie überstanden haben.
    Wenn man überwiegend so abhängt, dann entwickelt sich das automatisch in die Scheiße. Ein paar von damals sind Faschos geworden, andere sitzen im Jugendknast Berlin-Plötzensee. Eine meiner Mitschülerin geht auf den Strich, die treffe ich ab und an.

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