Treffpunkt Irgendwo
anmerken zu lassen. Ich ging normal zur Schule, stand in den Pausen mit Mia, Franzi und den Jungs herum, sprach über Klausuren, YouTube und darüber, ob Emma sich wirklich gegen den Willen ihrer Eltern ein Zungenpiercing machen lassen sollte. Ich ging zum Klavier, bin sogar wieder einmal zum Basketballtraining, was ich die letzten knapp vierzehn Tage lang hatte schleifen lassen. Samstag und Sonntag hatten wir ein Turnier in Charlottenburg, wir wurden Vierte von fünf Teilnehmern.
Abends habe ich mich zu meinen Eltern vor die Glotze gesetzt. Dass meine Eltern inzwischen jeden Abend zusammen im Wohnzimmer vor dem Fernseher saßen, hatte ich gar nicht so recht mitbekommen. Wenn ich normalerweise abends unterwegs gewesen war, mit Mia, mit Louisa, mit Zerved und Franzi, dann hatte ich immer noch kurz bei meinen Eltern im Wohnzimmer vorbeigeschaut. Selbst wenn ich den Abend allein oben in meinem Zimmer verbracht hatte, war ich doch zwischendurch mal zu ihnen runtergegangen. Seit Wochen aber schlich ich mich nur noch aus dem Haus raus oder rein und versuchte, meinen Eltern und ihren Fragen aus dem Weg zu gehen. Sie ließen mich machen, hielten es vermutlich für eine Phase. Doch nun fiel mir auf, dass sich mein Vater in den letzten Monaten unten ein richtiges kleines Heimkino zusammengestellt hatte. Das hatte mit dem großen Flatscreen zu Weihnachten begonnen, dann war die Surroundanlage dazugekommen, inzwischen standen dort sogar ein Festplattenrekorder und ein Blu-Ray-Player. Normales TV lief eigentlich gar nicht mehr, höchstens die Nachrichten, aber die über Podcast. Stattdessen wurde alles per DVD angesehen, jeweils die kompletten Staffeln. Was in meiner Klasse schon lange alle machten, hatte nun auch meinen Vater infiziert. Ständig bestellte er neue DVD-Boxen im Internet. Wenn ich mir das so überlegte, musste er echt viel Geld übrig haben. Die Hüllen füllten mittlerweile mehrere Regalmeter. Skandinavische Krimi-Mehrteiler, amerikanische Serien, mein Vater liebte Boston Legal. Etwas komisch fand ich das schon, früher hatten er und meine Mutter abends gelesen, sie liebte ihre Romane und er war, als ich klein war, immer in die Zeit und den Spiegel vertieft. Doch die stapelten sich inzwischen im Flur, ungelesen. Mein Vater las nur noch online auf seinem iPad. Wie sehr sich auch unsere Familie verändert hatte, wurde mir erst in diesen Tagen bewusst.
Eigentlich war so viel Sich-berieseln-Lassen nicht mein Ding, doch an diesen Abenden im Anschluss an meine erfolglose Lensuche war ich richtiggehend dankbar dafür. Ich konnte einfach neben meinen Eltern sitzen, glotzen und musste nicht mehr nachdenken. Meine Mutter schlief spätestens nach der ersten Folge ein, mein Vater und ich hielten bis mindestens ein Uhr durch. Obwohl wir nicht viel sprachen, fühlte ich mich in dieser Zeit meinem Vater sehr nah.
Am nächsten Morgen stand ich auf, ging zur Schule und dann mit der S-Bahn in die Stadt, um Len zu suchen.
Von einem total alten Punk in Kreuzberg, ein fertiger Typ, sicher schon über sechzig, aber dennoch mit Iro und Punk-Tattoo am Nacken ganz klar zur Szene zugehörend, bekam ich eines Tages den Tipp, es am Breitscheidplatz zu versuchen. Obwohl da eher die Neuankömmlinge in Berlin zu finden seien, wie er sagte. Dann gäbe es auch immer noch den Bahnhof Zoo, dort seien aber nur die Alkies und dann natürlich auf der Kurfürstenstraße. Aber die Leute da seien mit Vorsicht zu genießen. Eben Junkies.
Ich bin anschließend dennoch an jeden der Orte, die mir der Typ genannt hatte. Aber immer Fehlanzeige. Niemand kannte Len.
Anfang April begannen die Osterferien, und da meine Eltern schon vor einem halben Jahr einen Romantikurlaub zu zweit nach New York gebucht hatten (ein Geschenk meiner Mutter an meinen Vater), war ich für fast vierzehn Tage allein zu Haus. Was bedeutete, ich hatte nun sogar den ganzen Tag Zeit für die Suche nach Len. Weder Eltern, denen ich irgendwelche Ausreden präsentieren musste, noch Schule, die mich in meiner Suche hindern konnte. Sogar Mia war mit ihren Eltern zu Verwandten nach Westdeutschland und würde erst nach Ostern wiederkommen.
Ich war wie besessen. Wenn ich am frühen Abend von meinen Touren durch Mitte zurückkam, bin ich direkt hoch in mein Zimmer, um online weiterzusuchen. Ich klickte mich durch die Seiten der verschiedenen Straßenkindervereine und Hilfsorganisationen auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen und war bereits am Überlegen, ob ich nicht per E-Mail bei
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