Treffpunkt Irgendwo
alles irgendwie normal. Warum bist du da raus, warum bist du auf die Straße?«
Len schwieg einen Moment, dann sagte er heiser: »Es hat irgendwann nicht mehr gepasst.«
»Wie nicht mehr gepasst?«, hakte ich nach.
»Weiß nicht… meine Optik hat sich irgendwie verschoben. Da ist ein Riss, den sehen nicht alle, nur manche. Aber wenn man den Riss einmal gesehen hat, dann ist der da.«
»Ein Riss?« Ich konnte nicht verhindern, dass ich etwas herablassend klang.
»Ja, kann man schwer beschreiben. Aber irgendwann war da ein Riss für mich. Der ist seitdem fast immer da, den sehe ich irgendwie ständig. Und… durch den Riss kommt das Licht.«
»Das Licht?« Ich sah ihn an und dachte, spinnt der? Hatten irgendwelche Drogen sein Hirn zerstört?
»Nicht wirklich Licht«, druckste er herum. »Gefühltes Licht. Mein Licht.«
»Und das hast du, wenn du so lebst, wie du lebst? Auf der Straße, im Dreck pennen, irgendwelchen Leuten die Scheiben putzen und…«
»So bescheuert das klingt. Ja.«
»Und deshalb kannst du auch nicht mehr zurück?«
»Ja.« Lens Stimme wurde leiser. »Das passt einfach nicht mehr. Ich passe da einfach nicht mehr.«
»Und deswegen gibst du dir und mir auch keine Zukunft, wegen dem Riss, dem Licht.« Ich wusste, das, was ich tat, war falsch, doch was Len da anführte, war in meinen Augen so billig, so lächerlich, dass es mich fies und gemein werden ließ. »Klar, klingt logisch. Es passt einfach nicht mehr. Ein Riss, das Licht.«
»Jana, das verstehst du nicht.«
»Dann erkläre es mir«, forderte ich. So einfach würde er mir nicht davonkommen: Ich hatte ihn hier und nun wollte ich es endlich verstehen. Immerhin ging es um unsere Zukunft. Und um unsere Liebe.
»Klar… Also, du wohnst in einer Stadt neben einer Straßenbahnlinie«, begann Len leise. »Dass es ab und an rumpelt, wenn die Tram vorbeifährt, das gehört für dich dazu. Du kennst es nicht anders, das ist so seit deiner Geburt. Dann irgendwann ist Besuch da, jemand aus, sagen wir, Dresden. Und der sagt: ›Stört dich dieses Gerumpel nicht, wie kannst du da nachts schlafen?‹ Und ab diesem Moment kannst du nachts nicht mehr schlafen, denn nun hörst du dieses Gerumpel, es stört dich. Und das Einzige, was du noch tun kannst, ist wegzuziehen.«
»Okay, das verstehe ich.« Ich nickte. »Aber was ist dein Gerumpel, was stört dich, was ist deine Straßenbahn, sozusagen?«
»Das sind nur so Kleinigkeiten«, wich mir Len aus. »Die ich nicht mal alle genau benennen kann, aber zusammen ergeben sie, dass ich es nicht kann. Etwas fehlte irgendwann. Es ist nicht mehr wie früher. In mir ist eine nervende Unruhe. Ich weiß, das klingt krank, aber so ist es nun mal. Ich verlange ja auch nicht, dass jeder das so sieht wie ich. Sollen die anderen doch so leben, die sehen den Riss nicht, können anders glücklich sein. Ist für die okay. Mit Flachbildschirmen, verdummenden Fernsehprogrammen, die sie nur noch besoffen oder breit ertragen, aber dennoch den ganzen Tag anglotzen. Sind zufrieden mit Hartz IV. Ich kann aber so nicht leben.«
»Aber man muss doch nicht so leben!«, unterbrach ich ihn. Es gibt Millionen anderer Leben, die dir offenstehen. Der Weg dahin ist doch ganz einfach! Schule, Ausbildung, arbeiten, Geld verdienen und dann kann doch jeder so leben, wie er will. Freiheit heißt doch nicht nur Freiheit von etwas, sondern kann doch auch heißen für etwas. Wir sind doch frei, wofür wir uns entscheiden! Für uns beispielsweise.«
»Das denkst du wirklich?«, Len sah mich verwundert an.
»Das denke ich nicht, das weiß ich und das lebe ich!«
»Mach dir doch nichts vor. Irgendwann haben sie in diesem System noch jeden kleinbekommen. Das Leben, in das sie uns zwingen, ist zu anstrengend, um sich grundlegende Gedanken zu machen. Irgendwann heißt es für jeden: arbeiten, fressen, TV glotzen.«
Ich musste unvermittelt an meine Eltern denken und wusste nicht, was ich ihm entgegnen konnte.
»Aber ich sag dir, Jana, das wird nicht immer so sein. Irgendwann werden die Menschen aufwachen oder ein Krieg kommt oder sonst etwas, womit keiner gerechnet hat. Wiedervereinigung, Tschernobyl, Fukushima, ein Vulkan bricht aus, irgendein Verrückter beginnt einen Krieg. Und plötzlich ist alles anders, gilt nichts mehr von dem, was vorher so unumstößlich war. Vielleicht bricht die Wirtschaft zusammen, Euroende, was weiß ich.«
»Darauf wartest du? Auf Krieg, eine Ende von Europa?«, unterbrach ich ihn ungläubig. »Du brauchst
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