Treffpunkt Irgendwo
einen Krieg, um hier mit mir leben zu können?«
»Nein, natürlich nicht«, ruderte Len zurück. »Aber ich stamme aus der DDR, ich habe erlebt, nicht direkt, doch über meine Eltern erlebt, dass alles, was dir wichtig ist, zusammenbrechen kann. Dass alles, was vorher galt, plötzlich nichts mehr zählt. So läuft das im Leben. Und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dann wird die Zeit von mir und all den anderen kommen, die so sind wie wir. Dann kommt unsere Zeit.«
»Und wenn das, worauf du wartest, nicht kommt?«
»Dann habe ich eben Pech gehabt. Falsche Zeit, falsches Leben.« Len lehnte sich zurück und drehte sich eine weitere Zigarette. Was mich inzwischen echt störte. Die Wohnung war total verqualmt. Aber sagen wollte ich auch nichts. Noch nicht.
»Ich kann jedenfalls so angepasst nicht leben, das ist mir zu eng. Ich weiß nicht genau, was ich will, aber ich weiß genau, was ich nicht will.« Sein Kinn ruckte nach vorne. »Ich will nicht irgendwann hier so wie dieser Schultze enden. Mickerrente, Müll sammelnd, auf dem Sofa herumliegend, wartend, bis man endlich sterben darf.«
»Aber das verlangt doch keiner.«
»Doch!« Len beugte sich vor und zündete sich seine Zigarette an. »Warum lässt man uns nicht so leben, wie wir wollen.«
»Das stimmt doch nicht!«, regte ich mich auf.
»Doch!« Len wurde plötzlich laut, regte sich richtig auf, was ich von ihm bisher nicht kannte. Sonst war er doch eher der ruhige, besonne Typ. Fast schon schweigsam und nun ganz unerwartet dieser Ausbruch. »Diese Gesellschaft ist krank, will uns verblöden, mit Scheiße zuballern, immer neue Wünsche, neue Sachen, Handys, Computer, der ganze Mist. Braucht keiner wirklich. Aber wir sollen das konsumieren, schuften, damit wir das Geld dafür haben, alles Scheiße! Das System ist krank.« Er packte das Buch, das auf dem Couchtisch lag. Fahrenheit 451 . »Das solltest du mal lesen. Da steht die Wahrheit drin.«
»Und was ist die Wahrheit?«
»Der hat schon bereits vor sechzig Jahren angekündigt, dass wir irgendwann mit gigantischen Fernsehern leben, ständig glotzen, total verdummen und unfrei leben werden. Glotzen und konsumieren, Serien, Shows, Sport. Um uns ruhigzustellen. Dass die Gesellschaft nur Angepasste und Mitläufer verträgt. Dass jemand, der nicht so sein will, verfolgt und kriminalisiert wird. Hausbesetzer, Leute, die anders leben wollen, das große Spiel nicht mitspielen wollen, die werden verfolgt, weggesperrt in’ Knast oder in die Psychiatrie. Man will uns natürlich immer nur helfen. Damit wir zurück auf den richtigen Weg kommen. So werden wie alle. Dafür werden sie bezahlt, die Streetworker, Sozialarbeiter, Erzieher. Aber wehe, wenn sich einer verweigert, dann schlägt der Staat zu. So wie bei dem Feuerwehrmann Montag in dem Buch hier, der irgendwann keine Bücher mehr verbrennen will, sondern sie liest, der anfängt, Fragen zu stellen. Am Ende steigt er aus, wird gejagt, verfolgt, lebt im Untergrund, wartet auf bessere Zeiten.«
»Was für ein Scheiß!«
»Doch, der hat recht! Dir fällt das nur nicht auf, du passt in dieses System und du siehst nur den Riss nicht!«, warf mir Len vor.
»Also, das ist mir echt zu blöd.« Es war bereits nach halb elf, wenn ich pünktlich zu Hause sein wollte, dann musste ich jetzt los. »Und irgendwie klingt mir das alles nach Ausreden, niemand will heute mehr Bücher verbrennen.«
»Wozu auch noch verbrennen«, beharrte Len. »Wenn die Leute nur noch glotzen, lesen sie die Bücher sowieso nicht mehr.«
»Klingt nach einer dieser bösen Verschwörungstheorien. Aber nach einer, in der nicht alles zusammenpasst.«
»Muss denn alles zusammenpassen, nur weil du das in deiner kleinen Welt so willst?«
Ich griff meine Jacke und bin, ohne mich zu verabschieden, gegangen.
Kapitel 15
D a ich eine S-Bahn verpasste, rief ich zu Hause an. Meine Mutter nahm ab.
»Mama, ich bin am S-Bahnhof Schöneberg, die S2 ist gerade weg, wird zehn Minuten später, okay?«
»Klar, danke, dass du anrufst.«
Als ich endlich daheim ankam, lag mein Vater im Wohnzimmer auf dem Sofa wie üblich vor dem Fernseher und sah irgendeine skandinavische Krimiserie, meine Mutter saß jedoch in der Küche und las in einem Buch. Obwohl sie es schnell zur Seite schob, konnte ich den Titel erkennen. Pubertät – Wenn erziehen nicht mehr geht.
»Und, geht es Len besser?«, fragte sie.
»Der Husten wird weniger«, log ich ohne jedes schlechte Gewissen.
»Das ist gut.«
»Ja.«
»Willst du dich
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