Treffpunkt Irgendwo
wie ich schnell feststellte. Mia, Louisa und all die anderen tratschsüchtigen Zicken habe ich nicht einen Moment vermisst. Ich fand es gut, plötzlich mitten in der Stadt zu sein und mit all den verschiedenen Menschen, die in Berlin heimisch waren, zusammen in einem Klassenzimmer zu sitzen. Ich ging nun mit Russen und Türken zusammen in eine Schule. Auf dem Schulhof war Deutsch nicht unbedingt die Muttersprache der Mehrheit, aber das störte mich nicht. Ebenso wenig, dass es eine Ganztagsschule war. Das hieß zwar Unterricht bis sechzehn Uhr, doch dafür war dann anschließend Schule erledigt. Hausaufgaben gab es keine mehr. Das Einzige, woran ich mich wirklich gewöhnen musste, war die Lautstärke in der Schule. Egal ob im Unterricht, in den Gängen oder auf dem Schulhof, der Lärmpegel war wesentlich höher als an meiner früheren beschaulichen Schule in Marienfelde an der Grenze zu Brandenburg. Aber ich wollte nicht länger ruhig am Stadtrand leben, ich war ein Teil der Stadt geworden und die Stadt ein Teil von mir.
Bei Gangway war ich über Ella gelandet. Ein Verein für Straßenarbeit in Berlin. Die Leute von Gangway halfen ihr, arbeiteten mit ihrem Strafverteidiger zusammen, kümmerten sich um alles Organisatorische, aber auch um sie als Mensch hinter Gittern. Gangway und die Leute dort gefielen mir. Hip-Hop-Projekte in Berlin oder auch in Russland, Graffiti-Workshops, Obdachlosenhilfe, viele Teams ihrer Streetworker waren in Berlin unterwegs und halfen in den Problembezirken. Hier würde Ella auch Hilfe finden, wenn sie aus der Jugendhaft entlassen werden würde. Aber das war noch eine ganze Weile hin.
Ab und an rief Len an oder schrieb mir einen Brief, und wenn endlich mal wieder einer im Postkasten war, dann habe ich ihn mit in den Knast genommen und wir haben ihn zusammen gelesen. Selbst die Passagen in den Briefen, in denen Len mir schrieb, wie sehr er mich vermissen würde, standen inzwischen nicht mehr zwischen Ella und mir. Über jedes Lebenszeichen von Len freuten sich Ella und ich. Dann saßen wir im Besuchszimmer zusammen und waren beide glücklich, dass er es geschafft hatte. »Besser icke als Len, wa!«, war Ellas Standardkommentar. Wenn man ihren Worten Glauben schenken durfte, dann saß sie die Haft auf einer Arschbacke ab. Doch sie war wie ich felsenfest davon überzeugt, dass Len hinter Gittern verrückt geworden wäre. Ella hatte mir ihre damalige Zelle in der Untersuchungshaft beschrieben. Ein etwa sechs Schritt langer Raum, die Wände grauweiß getüncht. An der einen Wand ein Holztisch, eine fest montierte Bank. Gegenüber ein eisernes Klappbett, in der Ecke ein Klo. Hoch oben ein Fenster.
Doch Len würde hoffentlich nie in so einem Raum landen. Er war inzwischen in Portugal angekommen. Zuerst hatte er sich lange im spanischen Hochland herumgetrieben, bei der Olivenernte geholfen, immer auf der Suche nach einem Ort, wo er bleiben konnte. Doch Spanien war es anscheinend nicht. Nun hofften Ella und ich auf Portugal. Len arbeitete unten an der Atlantikseite der Algarve in einer Surfschule. Vielleicht war er da richtig. Er hatte mir einmal erzählt, wie gerne er am Meer leben würde. Und weiter ging nicht. Er war inzwischen am äußersten südwestlichen Zipfel Europas angekommen.
Natürlich war ich schon mehrfach, eigentlich die ganzen vergangenen Sommerferien über, versucht gewesen, zu ihm zu fahren. Aber ich wusste instinktiv, Len und ich waren noch nicht bereit für ein Wiedersehen. Wenn wir uns das nächste Mal sehen würden, dann sollte es gut sein, sich zu treffen.
Dann sollte es sich richtig anfühlen, keine Heimlichkeit, kein Verstecken, keine Flucht.
Ich wollte einen glücklichen Len in die Arme nehmen, nicht ihm helfen. Wenn das hieß, ich musste noch warten, so würde ich eben warten. In Ella hatte ich eine gute Lehrerin, was das anging.
Den Herbst über spielte ich oft mit dem Gedanken, von zu Hause auszuziehen. Meine Eltern waren mir so fremd geworden. Ich verstand sie nicht mehr und verstand noch weniger, dass sie mich nicht verstehen konnten. Wer waren diese Menschen, die mich, solange ich klein war, ermutigt hatten, für andere einzutreten, und nun nur noch Angst hatten, dass ich auf der Straße landen würde. Deren einzige Sorge war, dass die Menschen, denen ich half, mich hinunterziehen könnten.
Warum hatten sie kein Vertrauen zu mir? Sie hatten mich doch erzogen, hatten erlebt, wie ich aufwuchs. Warum konnten sie nicht auch auf mich, auf sich vertrauen?
»Wieso
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