Treibland
er übers Oberdeck lief, konnte er nicht verhindern, dass sein Blick sehnsüchtig nach Westen ging, Richtung Altona. Der Fischmarkt wurde verdeckt von der Hülle der Elbphilharmonie, aber für Danowski waren die Hochhäuser dahinter schon Heimat, er spürte in seinem Hals, wie es war, dort an einem vergleichsweise sorgenlosen Sonntagmorgen entlangzuspazieren, genervt davon, auf die Kinder warten zu müssen, auf dem Parkweg oberhalb der Straße, mit Blick aufs Wasser und auf Bekloppte, die auf vorüberziehenden Kreuzfahrtschiffen standen. Erstaunlich war die scharfe Rechtskurve, die die Elbe hinter den Landungsbrücken Richtung Westen machte, als wollte sie sich und seine Sehnsuchtsorte vor ihm verbergen.
Danowski wandte sich ab. Das grauweiße Bürogebäude des Unilever-Konzerns in der Hafencity schien zu nah, er meinte, im Café an den Treppen zur Elbe hin einzelne Gesichter erkennen zu können. Ein paar Anwohner protestierten mit Parolen auf Bettlaken gegen die Anwesenheit der «Großen Freiheit» in der Hafencity, offenbar bemüht, das Wort «Pestschiff» nicht zu verwenden: «Keine Quarantäne im Wohngebiet.» Das Unilever-Gebäude war von seinen Architekten mit einer durchsichtigen Plastikhülle versehen worden gegen Sonne und Wind oder wogegen auch immer ein internationaler Nahrungsmittelkonzern sich schützen wollte. Es sah aus wie ganz fein von Insekten eingesponnen. Scheiße, dachte er, und das hier ist die schönste Stadt der Welt, mehr Brücken als Venedig, weniger Niederschlag als München, schon klar, aber: Wären wir bloß in Berlin geblieben.
Am nächsten Tag gab es das Gerücht, es gäbe Kaffee. Hier und da hörte man das Wort aus Grüppchen: «Kaffee.» Der Kaffee, hieß es, sei auf Deck 11 an den Kaffeestationen gesehen worden, dort, wo man sich während der Kreuzfahrt zu jeder Tages- und Nachtzeit an großen Maschinen Kaffee zapfen konnte, heiße Milch und heißes Wasser. Danowski lief ziellos durchs Schiff, den Blick nach innen gewandt, als ihn das Gerücht erreichte. Eine Gruppe von Passagieren, die an ihm vorüberlief und sich gedämpft über Kaffee unterhielt: Kaffee, der gesehen worden war, womöglich sogar gerochen. Heißer Kaffee.
Danowski hielt inne und folgte dann der Gruppe in einem Abstand, der alles andere als unauffällig war, aber gerade noch unaufdringlich. Plötzlich schien es ihm, als wäre alles, was er brauchte, um sich gut zu fühlen, wie ein Mensch, und zwar nicht wie ein gefangener Mensch, sondern wie einer, der noch Optionen hatte, Kaffee. Es war nicht ganz unplausibel. Direkt neben den Kaffeemaschinen befand sich der Notgenerator. Vielleicht war das Erste, was nach der Verbindung mit dem Landanschluss in der Hafencity wieder lief, die Kaffeemaschine? Er merkte, wie die Passagiere sich aus ihren Funktionsjackenkragen verstohlen zu ihm umwandten, im Gehen, wie ihre Schritte schneller wurden und sie, sobald sie die Treppen erreicht hatten, anfingen, zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Danowski ließ sich nichts anmerken, im Schrittebeschleunigen war er Profi, das konnte er stufenlos, man sah ihm gar nicht an, wie er Fahrt aufnahm. Der Trick war, die Füße kaum zu heben. Als die Gruppe den Treppenlauf links nahm, ging er rechts und rechnete damit, sie bereits auf dem nächsten Deck eingeholt zu haben. Durchs offene Treppenhaus sah er, dass sie anfingen zu rennen. Danowski hörte seine Mutter noch sagen: Junge, nimm die Füße hoch!, da strauchelte er auch schon über eine der rosaroten Teppichstufen, und er konnte gerade noch durch eine halbe Rolle seitwärts verhindern, dass er sich das Schienbein aufschlug am goldenen Stufenbeschlag. Im Straucheln hängte ihn die Gruppe ab. Kaffee!, dachte Danowski quasi animalisch, und er stellte sich vor, dass er seine Waffe einsetzen würde, hätte man sie ihm nicht abgenommen: kein Warnschuss, direkter Immobilisierungsschuss ins Bein, Unterschenkel, genau der richtige Winkel von hier unten aus seiner Aufrappelung, und eine Kugel würde reichen, denn das waren Touristen, Rudeltiere, und wenn einer von ihnen zu Boden ginge, würden die anderen voll Schreck verharren oder planlos wegrennen, nicht in Richtung Kaffee.
Danowski fluchte. Der Kaffee schien ihm wie eine Verbindung zu Leslie und einem ganz normalen Morgen und den Kindern, stehst du auf?, machst du Kaffee?, komm, bleib noch liegen. Riechst du den Kaffee? Der Moment, wenn er die Augen aufschlug um sechs und Leslie beugte sich über ihn und sagte: «Vorsicht, heiß!», und das
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