Treue Genossen
vor, die sich an nichts mehr erinnerten.
Eva hatte ihn seit seiner Ankunft ignoriert, und je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass die Nacht mit ihr ein Fehler gewesen war. Er war privat zu sehr verstrickt. Wo war seine ihm so heilige Objektivität geblieben? Er kam sich wie eines dieser Weltraumteleskope vor, deren Linsen und Spiegel alles so verzerrten, dass das, was man sah, genauso gut das Licht von Autoscheinwerfern wie das der Milchstraße sein konnte.
Als der Garten gerichtet war, brachte Maria kaltes Wasser für Arkadi und Eva und Kwas für Roman. Kwas, ein Bier aus vergorenem Schwarzbrot, stellte für Roman ein Lebenselixier dar. Eva führte eine Art Eiertanz auf und achtete darauf, dass stets einer der beiden Alten zwischen ihr und Arkadi blieb.
Arkadis Handy klingelte. Die Direktorin des Moskauer Kinderheims war dran.
»Chefinspektor Renko, so geht das nicht. Sie müssen sofort zurückkommen. Schenja wartet jeden Tag.«
»Nach unserer letzten Begegnung hat Schenja nicht mal zum Abschied gewinkt. Ich bezweifle doch sehr, dass er meinetwegen traurig ist.«
»Er zeigt eben seine Gefühle nicht so offen. Erklären Sie es ihm.«
Wieder diese Leere am Telefon, die entweder aus dem Innern eines Abfalleimers oder eines Jungen kam, der seine Gefühle für sich behielt.
»Schenja, bist du dran? Schenja?«
Arkadi hörte nichts, doch er spürte, dass der Junge sich den Hörer ans Ohr presste und auf abstoßende Weise die Lippen schürzte.
»Was tust du denn, Schenja? Die Direktorin in den Wahnsinn treiben, wie es scheint.«
Stille und vielleicht ein nervöser Wechsel des Hörers von einem Ohr zum anderen.
»Keine Neuigkeiten von Baba Jaga«, fuhr Arkadi fort. »Es gibt nichts zu berichten.«
Er konnte förmlich sehen, wie Schenja mit der einen Hand den Hörer umklammerte und an den Nägeln der anderen kaute. Er versuchte, so lange zu warten, bis der Junge die Geduld verlor, doch das war unmöglich. Schenja blieb einfach am Apparat.
»Wir hatten letzte Nacht ein Unwetter. Ein Drache ist ausgebrochen und hat hier gewütet. Er hat Felder verwüstet und Zäune umgeworfen. Wir haben ihn über die Wiesen bis zum Fluss verfolgt, doch er ist entkommen, denn die Brücke wurde von einem Monster bewacht, das in einer Schachpartie bezwungen werden muss. Keiner von uns war gut genug, und so konnte der Drache entfliehen. Nächstes Mal müssen wir einen besseren Schachspieler mitnehmen. Sonst ist in der Ukraine nichts passiert. Wir sprechen uns bald wieder. Bis dahin, benimm dich.«
Arkadi klappte langsam das Handy zu und bemerkte, dass Roman und Maria ihn erstaunt ansahen. Eva schien amüsiert.
Sie gingen mit Sensen auf die Wiese hinter dem Kuhstall und mähten Gras, das der Regen kaum niedergedrückt hatte. Die Sensenblätter waren so scharf, dass sie pfiffen. Arkadi und Roman gingen voraus, Eva und Maria folgten und banden das gemähte Gras mit Schnur zu Garben zusammen. Arkadi hatte zuletzt als Angehöriger der Allzweckwaffe Rote Armee eine Wiese gemäht, und er erinnerte sich, dass der Rhythmus der gleiche war wie beim Schwimmen. Je runder die Bewegung, desto größer die Wirkung. Halme flogen, und Insekten wirbelten im goldenen Staub. Es war die geistloseste Arbeit, die er seit Jahren verrichtete, und er ging völlig in ihr auf. Am Rand der Wiese angekommen, legte er die Sense weg und warf sich ins hohe Gras, spürte die warmen Halme, die kühle Erde und blickte wie benommen in den Himmel, der sich leicht über ihm drehte.
Wie konnten sie das tun?, fragte er sich. So fröhlich eine Wiese mähen, wo doch nur ein paar Schritte von hier vier Enkelkinder in namenlosen Gräbern lagen. Er stellte sich jedes Begräbnis vor, und die Wut. Hätte er das ertragen? Doch Roman und Maria und die anderen Frauen gingen offenbar an jede Aufgabe so heran, als sei sie ihnen von Gott auferlegt worden. Oder wie einer von Tolstois Helden es ausdrückte: Arbeit ist heilig.
Ein Körper sank neben ihm nieder, und wenn er sie auch nicht sehen konnte, so hörte er doch ihren Atem. Es war so normal, dachte Arkadi. Obwohl es nicht im Geringsten normal war. Arbeitete er normalerweise im Garten? Durch die geschlossenen Augen spürte er das schwache Pulsieren der Sonne. Wie wohltuend es war, an nichts zu denken, wie ein Stein auf einer Wiese zu liegen und sich nie wieder zu bewegen. Noch besser, wie zwei Steine, dachte er.
Eva fragte hinter einer Graswand hervor: »Warum bist du gekommen?«
»Maria hat mir gestern
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