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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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oder nicht? Oder wollte ihn Jakow wie ein schwarzer Engel mit Gewalt vor der Hölle bewahren?
    Arkadi trat in ihr Blickfeld. Bei jedem Schritt kam auch der Sarkophag näher, als hätte er nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um über die Mauer zu springen, ein Anblick, der ohne ein Gebet schwer zu ertragen war. Jakow grüßte Arkadi mit einem kurzen Nicken, um ihm zu zeigen, dass kein Grund zur Besorgnis bestehe und Bobby und er in Ordnung seien. Bobby hielt eine Namenliste in der Hand, die Arkadi nur ausmachen konnte, weil sich das Licht des aufgehenden Mondes über den Kraftwerkshof ergoss. Vielleicht hatten Bobby und Jakow alles gut geplant, und vielleicht hatten sie auch Glück, aber jede am Kraftwerk verbrachte Minute barg ein Risiko, und die Liste sah lang aus. Arkadi erinnerte sich, was Eva gesagt hatte. Eine vollständige Liste würde bis zum Mond reichen. Der Gedanke an die Gefühllosigkeit, mit der er sie zurückgewiesen hatte, ließ ihn zusammenzucken. Er hatte sie in dem Augenblick verlassen, als sie ihn am meisten brauchte. Er fürchtete, einen Fehler begangen zu haben, der nicht mehr gutzumachen war.
    Wie das Taj Mahal musste man Pripjat bei Mondlicht gesehen haben. Die breiten Alleen und stattlichen Kastanien. Die voller Zuversicht entworfenen Grünanlagen, Bürohäuser und Wohnblocks. Die Art, wie der Hauptplatz zu dem Sowjetwappen aufschaute, das oben am Rathaus prangte. Trotz der leeren Fensterhöhlen und obwohl Gras zwischen den Steinplatten spross.
    Arkadi ließ sein Motorrad auf dem Platz stehen. Er ging zum Theater, in dem er Karel Katamai getroffen hatte, tastete sich wieder durch Kulissen im Foyer, leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Bühne, wo das Klavier stand, und zwischen die Sitzreihen. Karel Katamai und das Sofa waren fort, nur ein paar Tropfen getrockneten Bluts im Staub zurückgeblieben.
    Arkadi konnte unmöglich eine Stadt absuchen, die für fünfzigtausend Einwohner gebaut war. Doch der todkranke Mann und das Sofa konnten nicht weit sein, selbst wenn die Brüder Woropai ihn in einer Sänfte trugen. Seine blutenden Nasenlöcher waren kleine Lecks. Zudem litt er unter inneren Blutungen, in den Lungen, in den Eingeweiden, im Kleinhirn. Dieses Schicksal vor Augen, hatte Pascha Iwanow die schnellere Alternative gewählt und war aus dem zehnten Stock gesprungen.
    Wieder auf dem Hauptplatz, stellte Arkadi das knatternde Dosimeter ab. Mittlerweile kannte er sich in der Stadt aus. Er wusste, welche Gebäude stark verstrahlt waren und welche Gassen man besser im Laufschritt durchquerte.
    »Karel!«, rief er. »Wir müssen miteinander reden.« Solange wir noch können, dachte er.
    Etwas huschte durchs Gras und verflüchtete sich wie Rauch im Strahl seiner Taschenlampe. Er leuchtete die Fassaden der Bürohäuser ab. Wo Fensterscheiben noch intakt waren, blinkte der Strahl zurück. Er richtete die Lampe weiter nach oben, kam aber zu dem Schluss, dass die Woropais nicht versucht hatten, Katamai in eine der oberen Etagen zu tragen. Und überhaupt, warum sollte Karel in einem dunklen, nach Urin stinkenden Raum zwischen abgebröckeltem Putz sitzen, wenn er draußen in der milden Nachtluft nach dem Mond greifen konnte?
    Arkadi kehrte zur Mitte des Platzes zurück und wollte weitergehen, als ihm der Rummelplatz ins Auge stach. Er besaß drei Attraktionen: Riesenrad, Autoskooter und ein Karussell, in dem die Kinder in einem Ring aus Blütenblättern saßen, der sich im Kreis drehte, bis es ihnen schwindlig oder schlecht wurde. Die Hälfte der Autoskooter parkte auf der Seite, der Rest steckte noch im Verkehrsgetümmel. Das Riesenrad war groß genug für vierzig Gondeln. Alles hatte Rost angesetzt, und das Riesenrad sah so aus, als sei es beim Drehen stehen geblieben und eingerostet.
    Karel Katamai lag auf seinem Sofa vor dem Karussell. Arkadi löschte die Taschenlampe. Er benötigte sie nicht. Karel trug dasselbe Eishockeytrikot wie beim letzten Mal und war wieder auf Kissen gebettet. Sein Gesicht leuchtete blass, und seine Augen schienen noch stärker gerötet, doch sein mit Perlen geschmücktes Haar sah frisch gerichtet aus. Auf dem Boden vor dem Sofa standen Plastikblumen, eine Plastikflasche Evian und eine Teetasse aus Porzellan, die zweifellos aus einer Wohnung stibitzt war.
    Außerdem sah Arkadi eine Sauerstoffflasche, einen Atemschlauch und Gurtzeug. Die Brüder Woropai hatten es ihm so gemütlich wie möglich gemacht. Er wirkte wie ein Fürst der Unterwelt.
    Doch Karel war tot. Seine

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