Treue in Zeiten Der Pest
tupften eine rote Salbe auf die Wunden. Auf dem sauberen Ziegelboden standen Tiegel und Schalen, in denen sich ein seltsames Pulver, Fett, Mist, eine Gallertmasse und stinkender, dunkler Kot befanden. In größeren Behältern bewahrte man Teile von Schlangen, Krötenköpfe und mit Blut aufgegossene Exkremente auf. Einige Gehilfen waren dabei, etwas mit einem Steinmörser zu zerstampfen. Ein anderer pulverisierte Knochen; Henri konnte nicht erkennen, ob sie von Menschen oder Tieren stammten.
»In solchen Hospitälern arbeitet Ihr also«, sagte Henri, »deshalb sieht man Euch nicht mehr bei Angélique.«
»So ist es. Die Anzahl der Pestopfer ist mittlerweile riesig, und ich muss ihnen allen helfen. Angélique ist nur eine unter vielen.«
Henri war von Priziacs Worten zunächst unangenehm berührt, aber er schwieg, und dann wurde ihm langsam bewusst, dass der Arzt auf seine Weise durchaus Recht hatte.
»Glücklicherweise haben wir gute Ärzte«, fuhr der Magister fort. »Und die brauchen wir auch. Denn von den Priestern ist keine Hilfe zu erwarten. Die Kirche behauptet, die Pest sei eine Nebelwolke, eine eingebildete Engelserscheinung, die den Menschen als Mahnung dienen soll. Die Heiligen Rochus und Sebastian gelten als Pestpatrone, aber mehr als dass sie sich unsere Gebete anhören, ist von ihnen nicht zu erwarten.«
»In diesem Fall muss ich die Kirche ausnahmsweise einmal in Schutz nehmen«, sagte Henri. »Solange niemand weiß, welche Ursachen diese oder andere Seuchen haben, sollten wir ihre Ansichten nicht verteufeln.«
»Als vor zwanzig Jahren in Südfrankreich eine ähnliche Seuche ausbrach wie die unsere, behauptete ein Arzt, dass Rattenflöhe sie ausgelöst hätten.«
»Ein interessanter Gedanke, aber wohl nicht zu beweisen. Obwohl«, Henri begann zu grübeln, »Ratten gibt es in Quimper zu Tausenden.«
»Eben!«, entgegnete Priziac. »Wusstet Ihr übrigens, dass unsere Ärzte inzwischen Menschenknochen als Heilmittel verwenden? Sie stellen Salben aus Knochenmark gegen Gelenkleiden her, setzen Menschenfett gegen Gicht, Hodenschmalz gegen die rote Ruhr, getrockneten Harn von Ochsen gegen die Beulen und Frauenmilch gegen Magenkrämpfe ein. Sie alle sind große Ärzte, doch sie können nur im Geheimen arbeiten. Sie holen die Leichen, die sie zur Herstellung ihrer Medikamente benötigen, von den Scharfrichtern und Totengräbern. Am begehrtesten sind Blut, Urin und Sperma von gerade Hingerichteten.«
»Hören Sie auf, Magister, wie soll ich bei solchen Geschichten meinen Glauben an die Medizin bewahren?«
»Aber wieso denn? Genau das ist unser tägliches Geschäft! Wie sollen wir die Seuche bekämpfen, wenn wir nicht alles Erdenkliche ausprobieren, um sie zugrunde zu richten?«
In diesem Moment riss sich einer der vermummten Helfer das Tuch vom Gesicht, darunter kam ein zierliches Frauengesicht zum Vorschein. Das hübsche Weibsbild wollte die beiden Männer mit einer Handbewegung fortscheuchen.
»Bitte geht fort. Die Krankheit ist ansteckend!«
»Ich bin Arzt«, sagte Priziac.
»Oh, entschuldigt bitte, Medicus. Ich habe heute erst hier angefangen.«
»Habt Ihr Verwandte, die erkrankt sind?«, fragte Henri die hübsche Frau.
»Ja. Aber sie liegen zu Hause, nicht hier im Hospital. Ich möchte nicht, dass sie von diesem Elend umgeben sind. Zu Hause ist es schlimm genug. Ich komme hierher, um zu lernen, wie ich sie daheim besser pflegen kann.«
»Ich wünsche Euch viel Glück!«, entgegnete Henri mit einem betretenen Lächeln. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.
Die junge Frau nahm es ihm nicht übel. Sie nickte nur, setzte ihre Gesichtsmaske wieder auf und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
Henri und Priziac gingen bis ans Ende des Ganges und betraten einen kleinen Raum neben dem Ausgang, in dem es vergleichsweise gut roch. Würzige Kräuter und ätherische Öle wurden an einer offenen Feuerstelle verbrannt und auf einer Steinplatte verdampft. Der Magister zählte sie alle auf.
»Wermut, Melisse, Lavendel, Bockshorn und Misteln. Gegen die schweren Seuchen setzen einige kräuterkundige Ärzte zudem auch Altheewurzeln, Scabiosen und manches andere ein. Man vermutet, dass die Krankheit sich von diesen Gerüchen vertreiben lässt. Ob das wirklich funktioniert, wissen wir nicht. Tja, wir brauchten noch mehr Ärzte, nicht mehr Priester – aber wem sage ich das, Ihr seid ja selbst ein halber Mediziner.«
»Nein, nein, das bin ich nicht. Das meiste meines bescheidenen Wissens auf dem Gebiet der Medizin
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