Treuepunkte
dem anderen. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass, jedenfalls oberflächlich betrachtet, eine Art Frieden herrscht. Möglicherweise ist es auch nur ein Waffenstillstand, aber ich bin damit erst mal glücklich.
Wir fahren auf direktem Weg zu Inge und Rudi, um die Kinder zu holen. Inge freut sich, uns zu sehen und will Mark und Claudia gar nicht herausgeben. »Macht euch doch en nette Abend, ich bring die moin dahin, wo se hinmüsse«, schlägt sie uns vor.
Claudia berichtet begeistert, dass ihr Intimfeind Emil, der Sohn unserer Nachbarin Tamara, auf die Hochbegabtenschule gehen und sie ihn so, nach dem Sommer, endgültig los sein wird. Schon in diesem Alter kann es die Stimmung sehr aufhellen, wenn man den falschen Mann los ist.
Mark, unser Sohn, wirkt hingegen auffallend still. »Ist was, Liebling?«, frage ich ihn. Er bekommt einen roten
Kopf, den er vehement schüttelt. »Nein«, ist alles, was ich aus ihm herauslocken kann. Verdächtig. Inge zieht mich zur Seite. »Also Andrea, irschendwas is da sehr wohl vorgefalle. Die im Kinnergarte habe gesacht, sie wollte euch spreche. Dringend. Mir habe se nix gesagt, nur des es so ja echt net weitergeht.« Wäre ja zu schön gewesen, wenn heute alles glatt laufen würde. »Wenn’s geht, sollt ihr heut noch komme«, sagt mir Inge noch. Das klingt gar nicht gut. Ich schnappe mir Mark und starte ein kleines Verhör. Er ist bockig und will nichts sagen. Dann soll er es lassen. Ich habe bisher noch alles rausbekommen. »Wir müssen noch zum Kindergarten«, teile ich meinem Mann mit und er sagt nur: »Wenn du meinst.«
Inge findet es toll, dass ich wieder arbeiten gehe: »Großartisch, Andrea. Isch gratulier dir. Isch freu misch werklisch.« Allerdings aus völlig anderen Gründen als ich. Eigentlich entspricht das nämlich keineswegs ihren Vorstellungen von der idealen Familie. Da tickt sie eher sehr traditionell. »Die Klaane brauche ihre Mutter, wofür kriescht mer denn Kinner, wenn mer se dann abschiebe muss.« In diesem speziellen Fall allerdings mag sie die Abschiebung. »Mer könne uns gern mehr um die beide kümmern«, bietet sie mir an. »Sehr gerne, Inge«, sage ich und bin wirklich dankbar. Mit Inge über moderne Familienstrukturen zu diskutieren, bringt nichts. Ich habe es aufgegeben. Rudi, mein Schwiegervater, drückt mich besonders fest beim Abschied. »Is bei euch alles in Ordnung, Andrea?« fragt er dabei und sieht mir in die Augen. »Ja, Rudi, besser als zuvor«, sage ich und habe erstmals seit Tagen bei diesem Thema nicht gelogen. Die Stimmung heute ist allemal besser als noch gestern oder vorgestern.
Wir fahren nach Hause und halten noch kurz am Kindergarten. Ich glaube zwar nicht, dass es etwas wirklich Dramatisches ist, bin aber zu neugierig, um bis morgen zu warten. Außerdem ist es schlau, kurz vor Feierabend zu kommen, dann haben auch die Erzieherinnen keine Lust mehr, ewig rumzureden.
Unterwegs klingelt mein Handy. Es ist Birgit, meine Schwester. Die fehlt mir noch. »Was ist los, Andrea? Die Mama sagt, ihr habt Streit?«, kommt sie ohne Umschweife auf den Punkt. Eines muss man sagen: Die stille Familienpost funktioniert einwandfrei. »Alles Quatsch«, sage ich, »nur ein kleines Missverständnis. Wir kommen zum Grillen.« Dann würge ich sie ganz schnell ab, denn wenn Birgit mal loslegt, sollte man vorher einen freien Tag beantragen.
Im Kindergarten werden wir schon erwartet. Mark zieht es vor, im Auto zu bleiben. Er weigert sich standhaft, auszusteigen. Ich interpretiere es als erstes Schuldeingeständnis und lasse ihn im Wagen. Claudia, seine Schwester, genießt die Situation und spekuliert wild, welches Vergehen ihr Bruder wohl begangen haben könnte. »Der hat jemanden verkloppt!«, ist ihr Tipp. Wie selbstverständlich will sie mit aussteigen. »Du bleibst bei deinem Bruder. Wir sind gleich wieder da«, beschließt Christoph und wie immer, wenn Papa etwas sagt, fügt sich Claudia, wenn auch mit Motzgesicht.
Die Leiterin höchstpersönlich begrüßt uns. »Familie Schnidt, endlich. Kommen Sie bitte in mein Büro.« »Was ist denn eigentlich los?«, frage ich, langsam ein bisschen nervös. »Haben Sie persönliche Probleme, in der Familie?«, fragt sie zurück. Ich schaue meinen Mann
an, er mich und unisono sagen wir: »Nein. Wieso?« Ob das jetzt schlau war? Ich meine, je nachdem was Mark verbrochen hat, könnten wir es auf unsere häusliche Situation schieben und so für eine gewisse Rehabilitation sorgen. Aber zu spät. Nein ist nein. Ich
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