Trias
10:00 Uhr
Wie immer saß Katja Kirchner in der Morgenkonferenz ihrer in Berlin verlegten Zeitung Tagespost neben dem Chef der Lokalredaktion. Der Ablauf des Meetings aller Redakteure und Ressortleiter war ritualisiert. Heute mischten sich auch zwei Volontäre unter die fest angestellten Journalisten. Der Chefredakteur pries oder kritisierte verschiedene Artikel der vorangegangenen Ausgabe, stellte einzelne Autoren heraus oder ging verächtlich über sie hinweg. Seine leitenden Redakteure, gleichzeitig für Leitartikel wie auch für einzelne Ressorts der Innen- und Außenpolitik, Wirtschaft, Feuilleton und Sport verantwortlich, geißelte oder lobte er selten. Sie bekamen in seinen Augen genügend Geld, um ihre Sache ordentlich zu machen. Nach etwa zwanzig Minuten Blattkritik stellten die Ressortleiter die wichtigsten Themen des Tages vor. Wie so häufig ging es um die Splittergewerkschaft ROK, die mittlerweile auf Grund einer Anweisung aus dem Bundeskanzleramt vom Verfassungsschutz beobachtet wurde.
Der Pulverdampf, den sie mit spontanen Demonstrationen erzeugten, hatte sich wie ein giftiger Nebel über Deutschland gelegt. Das Innenministerium hatte weitere Hundertschaften von Bereitschaftspolizisten an die Ränder der Großstädte ab zweihunderttausend Einwohner verlegt. Innerhalb kurzer Zeit waren nach dem Muster internationaler Schutztruppen kasernenartige Anlagen errichtet worden. Die Observation der Brennpunkte des Auslands stand nun auch für Deutschlands Brandherde Pate. Die Deutsche Linkspartei (DLP) hatte im Deutschen Bundestag vorsorglich Protest eingelegt. Die Chefs der ROK saßen gleichzeitig auch im Vorstand der Partei.
Die Redakteurskonferenz beschloss zügig einen Leitartikel zum Thema »Deutschland im Widerstand«. Nach einer kurzen Diskussion über die politische Richtung des Herzstücks der nächsten Ausgabe ließ sich der Chefredakteur vernehmen. Er war ein Mann von Ende fünfzig mit grauen, glatt geschniegelten Haaren und einer Brille mit Gläsern von daumenstarker Dicke. Er wandte sich direkt an seine beiden Stellvertreter, die Verantwortlichen der Meinungsseite. Er sagte: »Halten Sie es so wie immer: Kommen Sie als Verfasser nach der Schlacht den Feldherrnhügel herunter und erschießen Sie die Verwundeten. Lassen Sie es ordentlich krachen. Links gegen Rechts gegen die Mitte und dann: alle gegen alle. Deutschland im Widerstand heißt vor allem: Kein Stein bleibt auf dem anderen.« Er sah wie ein weiser Uhu durch seine Brille auf die anwesenden Journalisten.
Die Runde blickte begeistert auf ihren Vorsitzenden. Markige Worte wie diese waren der Stoff, von dem hier alle träumten. Schließlich kamen die Redakteure zum entspannten Teil des alltäglichen Treffens: Klatsch und Tratsch aus der Politikerszene.
Es kam nicht selten vor, dass derbe Witze die Runde machten oder Politiker, von der Bundeskanzlerin abwärts, geschmäht wurden. Und genau so oft passierte es, dass nur kurz nach dieser Morgenkonferenz eben jene geschmähten Politiker die Redaktion für Interviews oder Hintergrundgespräche benutzten. Da schloss man Allianzen für den Augenblick: Die Journalisten genossen es, den Mächtigen nahe zu sein, und die Mächtigen waren glücklich, ihre Botschaften nach außen tragen zu können.
Als der Lokalchef an der Reihe war, sorgte er gleich zu Beginn der Vorstellung seiner Themenpalette in der Runde für einige Aufregung.
»Einer unserer Informanten im Berliner Polizeipräsidium ist der Überzeugung, dass ein prominenter Todesfall verheimlicht wird. Wir wollen der Sache heute intensiv nachgehen.«
»Welche Hinweise hat er denn?«, fragte der Chefredakteur, betont desinteressiert. Er führte eine überregionale Zeitung, in der zwar das Lokale seinen Platz haben musste, doch ginge es nach ihm, würde er jetzt gar nicht mehr zuhören. Er hielt das Lokale nicht für die große, weite Welt.
»Auffällig viele Meetings der Berliner Polizeispitze unter Einbeziehung der Chefs aller Mordkommissionen, des Bundeskriminalamts, Bundeskanzleramts und Landesamts für Verfassungsschutz. An Meetings in dieser Besetzung kann sich unser Informant nicht erinnern. Und er ist seit mehr als zwanzig Jahren bei der Berliner Polizei.«
Die anwesenden Redakteure sahen jetzt doch gespannt auf den Lokalchef und den Chefredakteur. Der fummelte am Gestell seiner Brille. Es roch nach einer unglaublichen Story mit Fortsetzungspotenzial. Schon dieses Meeting war vielen eine Nachricht wert. Katja Kirchner kritzelte mit
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