Trias
Alexanderplatz, 19:40 Uhr
Der Fahrstuhl hielt im Dachgeschoss des Hauses ihrer Wohnung am Berliner Alexanderplatz. Emma Rumpf betrat mit schnellen Schritten den Flur, warf Schal und Mantel auf einen verblichenen Teakholzstuhl und sah auf die Uhr über der Küchentür: 19 Uhr 40. Aus einem Regal zog sie eine Flasche 96er Dignus , einen Rotwein mit Brombeernote aus dem spanischen Navarratal. Diese erlesene Sorte hatte ihr Mann besonders gemocht.
Sie stieß die Tür zum Wohnzimmer auf, griff nach einem Glas aus dem Vertiko und ließ sich in einen grünen Ledersessel fallen. Sie füllte das Glas und leerte es in einem Zug. Sie schüttelte sich kurz. Dann starrte sie einige Minuten mit leerem Blick durch die großflächigen Scheiben ihres Esszimmers auf den Alexanderplatz mit seinem berühmten Wahrzeichen aus den Sechzigerjahren. Der mehr als 350 Meter hohe Televisionsturm mit seiner kugelförmigen Aussichtsplattform und der eindrucksvollen Antenne markierte einen starken Kontrast zu den sonst viel niedrigeren Gebäuden.
Emma war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Der grau lackierte Golf, der soeben vor ihrem Haus hielt, blieb für sie unsichtbar. Einer der Insassen strich mit einem Fernglas an den Fenstern ihres Wohngebäudes empor und hielt dann inne. Das Gesicht von Emma Rumpf war nur schemenhaft zu erkennen.
Eben ging eine blonde Frau mit einem Hund an der Leine an dem Auto vorbei, eine weiße Lilie in der Hand. Der Mann setzte schnell das Fernglas ab. Die Spaziergängerin hatte nichts bemerkt.
Emma Rumpf goss sich ein zweites Glas nach, als es an der Tür schellte. Es war Katja Kirchner, eine Journalistin, die letzte verbliebene Freundin aus gemeinsamen Studententagen.
»Komm herein«, sagte Emma gepresst. Ihr Körper begann zu zittern. Sie rieb die Hände so heftig aneinander, dass ihre Fingerknöchel weiß leuchteten.
»Oh, du Arme«, sagte Katja und umarmte sie fest. Emma ließ sich von ihr sanft ins Wohnzimmer schieben und auf ihre Couch drücken.
Katja war eine Spur kleiner als Emma, mit einem zierlichen Körperbau und blond gesträhnten Haaren, die hinter den Ohren steckten. Sie trug eine ausgeblichene Jeans, ein enges T-Shirt mit dem Aufdruck eines Pariser Labels und darüber eine rote Tweedjacke mit buntem Strass. Ihr Hund hieß Charlie, ein reinrassiger Boxer mit rehbraunem Fell. Er tänzelte nervös um sie herum und schnüffelte aufgeregt an Emmas Beinen.
»Charlie! Lieg!« Der Hund fiel auf der Stelle um.
Katja setzte sich neben Emma und nahm deren Weinglas, sie brauchte einen Schluck. »Cheers«, sagte sie, um Stimmungsaufhellung bemüht. »Das erste Glas ist meist das beste.« Sie leerte es gierig und musterte ihre Freundin mit besorgtem Blick. Scheu sah Emma zurück. Ihrer beider Gedanken schweiften in die Vergangenheit.
Als Emma, damals 27 Jahre alt, nach dem gemeinsamen Geschichts- und Politikstudium in Berlin an die deutsche Botschaft nach Warschau ging, versuchte es die gleichaltrige Katja mit einem Berufseinstieg bei der Süddeutschen Zeitung in München.
Wegen der hohen Fluktuation der Beamten in den deutschen Vertretungen der ehemaligen Ostblockstaaten wurde Emma schnell von einer Legationssekretärin zur Vizekonsulin und später zur Botschaftsrätin befördert. Katja volontierte indessen in den Ressorts Lokal-, Innen- und Außenpolitik, unterschrieb einen Redakteursvertrag und wartete fortan auf den richtigen Zeitpunkt zum Absprung ins politische Berlin. Die Kontakte der beiden Frauen lagen lange Zeit auf Eis, denn ihre Jobs kosteten sie viel zu viel Kraft, Zeit und vor allem Muße, um das kleine Frauennetzwerk aus dem Studium am Leben zu erhalten. Doch zufrieden waren beide an ihren Arbeitsorten nicht.
Als Emma bei einem Weihnachtsessen der Osteuropa-Botschafter im Berliner Auswärtigen Amt auf den damaligen Ministerialbeamten Stefan Rumpf traf, verliebte sie sich spontan, kehrte aus Warschau zurück und rückte mit viel Idealismus in die Abteilung Südostasien ein. Die Region war wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch aufgrund beginnender terroristischer Aktivitäten in und um Malaysia und Indonesien von strategischer Bedeutung. Emma lernte viel von ihrem Mann. Rumpfs Spezialität war das Strippenziehen bei der Lösung außenpolitischer Krisen, bei denen die Konfliktparteien gerne auf Deutschland setzten. Auf Emma machte Rumpfs Geschick sehr viel Eindruck, auch wenn sie seinen Hang zum Männerbündischen nicht so sehr mochte. Sie heirateten.
Auch Katja hatte
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