Tricks
bei Ruth, denn sie wusste, dass Carla noch nicht eingetroffen sein konnte. Es meldete sich nur der Anrufbeantworter.
»Ruth«, sagte Sylvia. »Sylvia. Ich rufe wegen des Mädchens an, das ich dir geschickt habe. Ich hoffe, sie wird dir nicht zur Last fallen. Ich hoffe, dass alles gut geht. Vielleicht ist sie dir ein bisschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Das mag an ihrer Jugend liegen. Sag mir Bescheid, ja?«
Sie rief noch einmal an, bevor sie zu Bett ging, erreichte aber wieder nur den Anrufbeantworter, also sagte sie: »Nochmal Sylvia. Wollte nur mal hören«, und hängte auf. Es war zwischen neun und zehn Uhr, noch gar nicht richtig dunkel. Ruth war offenbar noch nicht zu Hause, und das Mädchen traute sich wahrscheinlich nicht, in einem fremden Haus ans Telefon zu gehen. Sie überlegte, wie Ruths Mieter im Obergeschoss hießen. Sie schliefen bestimmt noch nicht. Aber der Name fiel ihr nicht ein. Auch gut. Bei ihnen anzurufen, das wäre zu viel Aufhebens gewesen, hätte von Überängstlichkeit gezeugt, wäre zu weit gegangen.
Sie legte sich ins Bett, fand es aber unmöglich, dort zu bleiben, also nahm sie eine dünne Decke und ging hinaus ins Wohnzimmer und legte sich auf das Sofa, auf dem sie während der letzten drei Monate von Leons Leben geschlafen hatte. Wahrscheinlich würde sie auch dort nicht einschlafen können – an der Fensterfront gab es keine Vorhänge –, und an der Färbung des Himmels merkte sie, dass der Mond aufgegangen war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte.
Das Nächste in ihrem Bewusstsein war, dass sie irgendwo – in Griechenland? – mit vielen Leuten, die sie alle nicht kannte, in einem Bus saß, dessen Motor alarmierende Klopfgeräusche von sich gab. Sie wachte auf und merkte, dass jemand an die Haustür klopfte.
Carla?
*
Carla hielt den Kopf gesenkt, bis der Bus die Stadt verlassen hatte. Die Fensterscheiben waren getönt, niemand konnte hineinschauen, aber sie musste sich davor in Acht nehmen hinauszuschauen. Für den Fall, dass Clark plötzlich auftauchte. Aus einem Laden kam oder an einer Kreuzung wartete, ohne jede Ahnung, dass sie ihn verlassen hatte, überzeugt, dies sei ein ganz normaler Nachmittag. Nein, überzeugt, dies sei der Nachmittag, an dem der Plan – sein Plan – in die Tat umgesetzt wurde, neugierig darauf, wie weit sie damit vorangekommen war.
Sobald der Bus das Umland erreicht hatte, schaute sie auf, holte tief Luft und nahm die Wiesen und Felder wahr, durch die violetten Scheiben leicht eingefärbt. Mrs. Jamiesons Fürsorge hatte ihr ein Gefühl von völlig neuer Sicherheit und Klarsicht gegeben, sodass ihr die Flucht als das Vernünftigste erschienen war, das sich denken ließ, sogar das Einzige, was jemand in ihrer Lage tun konnte, um sich die Selbstachtung zu bewahren. Carla hatte sich fähig gefühlt, ein ungewohntes Vertrauen aufzubringen, sogar einen reifen Sinn für Humor, als sie Mrs. Jamieson ihr Leben auf eine Weise geschildert hatte, die ihr Sympathie eintragen musste und doch ironisch und wahrheitsgemäß war. Und angepasst an Mrs. Jamiesons – Sylvias – Erwartungen, so weit sie die erkennen konnte. Sie hatte das Gefühl, dass es möglich war, Mrs. Jamieson, die ihr wie ein ungemein feinfühliger und anspruchsvoller Mensch vorkam, zu enttäuschen, aber ihrer Meinung nach war sie nicht in Gefahr, das zu tun.
Vorausgesetzt, sie brauchte nicht zu lange in ihrer Nähe zu sein.
Die Sonne schien, wie schon seit einigen Stunden. Als sie sich zum Mittagessen hinsetzten, hatten die Weingläser in ihrem Licht gefunkelt. Seit dem frühen Morgen war kein Regen mehr gefallen. Es wehte genug Wind, um das Gras und das blühende Unkraut am Straßenrand aus den durchnäßten Büscheln aufzurichten. Sommerwolken, keine Regenwolken, trieben über den Himmel. Die ganze Landschaft veränderte sich, schüttelte die Nässe ab, erstrahlte im Glanz eines Julitages. Und im Vorbeifahren vermochte sie nahezu keine Spuren der letzten Zeit zu entdecken – keine großen Pfützen auf den Feldern, die anzeigten, wo die Saat fortgeschwemmt worden war, keine kümmerlichen spindeldürren Maisstauden, kein umgeschlagenes Getreide.
Ihr kam der Gedanke, dass sie Clark davon erzählen musste – dass sie sich etwas ausgesucht hatten, was aus unerfindlichen Gründen eine sehr nasse und trübe Ecke des Landes war, und dass es andere Orte gab, wo sie vielleicht Erfolg gehabt hätten.
Oder immer noch haben konnten?
Dann fiel ihr natürlich ein, dass sie Clark
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