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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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gar nichts mehr erzählen würde. Nie mehr. Sie würde sich keine Sorgen mehr darum machen, was aus ihm wurde oder aus Grace oder Mike oder Juniper oder Blackberry oder Lizzie Borden. Sollte Flora zufällig zurückkommen, würde sie es nicht erfahren.
    Das war das zweite Mal, dass sie alles hinter sich ließ. Das erste Mal war genau wie der alte BeatlesSong – sie hatte einen Zettel auf den Tisch gelegt, sich um fünf Uhr früh aus dem Haus geschlichen und auf dem Kirchenparkplatz unten an der Straße mit Clark getroffen. Sie summte diesen Song sogar, zum Rattern der Busräder.
She's leaving home, byebye
. Sie erinnerte sich an den Morgen damals, hinter ihnen war die Sonne aufgegangen, sie hatte Clarks Hände auf dem Lenkrad betrachtet, die dunklen Haare auf seinen tüchtigen Unterarmen, und den Geruch im Lieferwagen eingeatmet, einen Geruch nach Öl und Metall, Werkzeug und Pferdestall. Die kalte Luft des Herbsttages blies durch die Ritzen des verrosteten Fahrzeugs herein. Ein Vehikel, in das sich niemand aus ihrer Familie gesetzt hätte und wie es kaum je durch die Straßen ihrer Wohngegend fuhr.
    Clarks Konzentration auf den Verkehr an jenem Morgen (sie fuhren inzwischen auf dem Highway 401 ), auf das Fahrverhalten des Lieferwagens, seine barschen Antworten, seine verengten Augen, sogar seine etwas unwirsche Reaktion auf ihre überschäumende Begeisterung – all das faszinierte sie. Wie auch das Chaos in seinem bisherigen Leben, sein eingestandenes Alleinsein, die Zärtlichkeit, die er bei Pferden und auch bei ihr an den Tag legen konnte. Sie sah ihn als den Architekten des Lebens, das vor ihnen lag, sich selbst als Gefangene, die ihre Unterwerfung richtig fand und gleichzeitig ungeheuer genoss.
    »Du weißt nicht, was Du hinter Dir lässt«, schrieb ihre Mutter ihr, in dem einzigen Brief, den sie erhielt und nie beantwortete. Aber in jenen fröstelnden Momenten der Flucht im Morgengrauen, da wusste sie, was sie hinter sich ließ, auch wenn sie nur eine recht vage Vorstellung von dem hatte, was vor ihr lag. Sie verachtete ihre Eltern, ihr Haus, ihren Garten, ihre Fotoalben, ihre Urlaubsreisen, ihre Küchenmaschine, ihr Badezimmer, ihre begehbaren Kleiderschränke, ihre unterirdische Rasenbewässerungsanlage. In der kurzen Nachricht, die sie ihnen hinterließ, hatte sie das Wort
ursprünglich
benutzt.
    Ich habe immer das Bedürfnis verspürt, ein ursprünglicheres Leben zu führen. Ich weiß, dass ich von Euch kein Verständnis dafür erwarten kann
.
    Der Bus hatte jetzt in der ersten Stadt auf der Strecke gehalten. Die Bushaltestelle war eine Tankstelle. Es war dieselbe Tankstelle, zu der Clark und sie anfangs immer gefahren waren, um billig zu tanken. In jener Zeit hatte ihre Welt auch mehrere Städte der Umgebung umfasst, und sie hatten sich manchmal wie Touristen benommen und in verräucherten Hotelbars die ortsüblichen Spezialitäten probiert. Schweinshaxen, Sauerkraut, Kartoffelpuffer, Bier. Und auf dem Heimweg schmetterten sie dann um die Wette wie durchgeknallte Countrysänger.
    Aber nach einer Weile galten all solche Ausflüge als Zeit- und Geldverschwendung. Etwas, was Leute taten, bevor sie ihre wahren Lebensumstände begriffen hatten.
    Jetzt weinte sie, ihre Augen hatten sich, ohne dass sie es merkte, mit Tränen gefüllt. Sie zwang sich, an Toronto zu denken, an die ersten Schritte, die vor ihr lagen. Das Taxi, das Haus, das sie noch nie gesehen hatte, das fremde Bett, in dem sie allein schlafen würde. Morgen aus dem Telefonbuch die Adressen von Reitställen heraussuchen, dann da hinfahren, wo immer das war, und nach einem Job fragen.
    Sie konnte es sich nicht vorstellen. Allein U-Bahn oder Straßenbahn zu fahren, neue Pferde zu versorgen, mit neuen Leuten zu reden, jeden Tag unter Scharen von Menschen zu leben, die nicht Clark waren.
    Ein Leben, ein Ort, genau aus diesem Grunde gewählt – dass Clark nicht darin vorkam.
    Das Seltsame und Schreckliche, das ihr über diese Welt der Zukunft klar wurde, so wie sie ihr jetzt vor Augen stand, war, dass sie dort nicht existieren würde. Sie würde nur umhergehen, den Mund aufmachen und sprechen, dies und jenes tun. Sie würde nicht wirklich dort sein. Und das Seltsame daran war, dass sie all das tat, dass sie in diesem Bus mitfuhr in der Hoffnung, wieder zu sich selbst zu finden. Wie Mrs. Jamieson sagen würde – und wie sie selbst vielleicht voll Genugtuung gesagt hätte:
ihr Leben in die eigenen Hände nehmen
. Ohne dass jemand ständig ein

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