Tricks
sie verliebt hatte. Es lag natürlich nicht in ihrem Wesen, so offen hingerissen, so voller Anbetung zu sein wie er.
*
Grace war bei ihrer Tante und ihrem Onkel aufgewachsen, eigentlich ihrer Großtante und ihrem Großonkel. Ihre Mutter war gestorben, als Grace drei Jahre alt war, und ihr Vater war nach Saskatchewan gezogen, um eine neue Familie zu gründen. Ihre Ersatzeltern waren freundlich, sogar stolz auf sie, wenn auch ratlos, und sie neigten nicht zu Gesprächigkeit. Der Onkel verdiente den Lebensunterhalt damit, Stühle mit Rohrgeflecht zu versehen, und er hatte Grace das Rohrflechten beigebracht, damit sie eines Tages das Geschäft übernehmen konnte, da seine Augen nachließen. Aber dann hatte sie für den Sommer die Stelle bei Bailey's Falls bekommen, und obwohl es den Onkel hart ankam – und die Tante auch –, sie gehen zu lassen, glaubten beide, sie müsse etwas vom Leben sehen, ehe sie sich häuslich niederließ.
Sie war zwanzig Jahre alt und hatte gerade die Oberschule abgeschlossen. Sie hätte schon vor einem Jahr damit fertig sein sollen, aber sie hatte eine ausgefallene Wahl getroffen. In der sehr kleinen Kleinstadt, in der sie zu Hause war – nicht weit von Mrs. Travers' Pembroke entfernt –, gab es wider Erwarten eine Oberschule, die fünf Klassen anbot, um ihre Schüler auf die staatlichen Prüfungen für die, wie es damals hieß, Höhere Reife vorzubereiten. Es war nie notwendig, alle angebotenen Fächer zu belegen, und am Ende ihres ersten Jahres – das ihr letztes hätte sein sollen, die dreizehnte Klasse – legte Grace die Prüfungen in Geschichte, Botanik, Zoologie, Englisch, Latein und Französisch ab und erhielt unnötig gute Noten. Aber im September meldete sie sich wieder zurück, um am Unterricht in Physik und Chemie, Trigonometrie, Geometrie und Algebra teilzunehmen, obwohl diese Fächer für Mädchen als besonders schwer galten. Am Ende dieses Jahres hatte sie dann mit einigen Ausnahmen alle nur möglichen Prüfungsfächer der Höheren Reife absolviert. Die Ausnahmen waren Griechisch, Italienisch, Spanisch und Deutsch, Fächer, für die es an ihrer Schule keine Lehrer gab. Sie schlug sich achtbar in allen drei Zweigen der Mathematik und in den Naturwissenschaften, auch wenn ihre Noten nicht annähernd so sensationell waren wie im Jahr davor. Sie hatte dann sogar überlegt, Griechisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch im Selbststudium zu lernen, damit sie sich im folgenden Jahr zu den Prüfungen anmelden konnte. Aber der Direktor ihrer Schule führte ein Gespräch mit ihr und sagte, dass ihr das nichts bringe, da sie nicht in der Lage sei, auf ein College zu gehen, und dass ohnehin kein Studiengang einen derart vollen Teller erfordere. Warum tat sie das? Hatte sie irgendwelche Pläne?
Nein, sagte Grace, sie wollte einfach alles lernen, was man umsonst lernen konnte. Bevor sie die Laufbahn der Rohrflechterin einschlug.
Der Direktor kannte den Geschäftsführer des Gasthofs und sagte, er werde ein gutes Wort für sie einlegen, falls sie im Sommer als Kellnerin arbeiten wolle. Auch er redete davon, erst einmal etwas vom Leben zu sehen.
Selbst der Mann, dem alle Bildung in diesem Städtchen oblag, glaubte also nicht daran, dass Bildung etwas mit dem Leben zu tun hatte. Und jeder, dem Grace erzählte, was sie getan hatte – sie erzählte es, um zu erklären, warum sie erst so spät die Schule abgeschlossen hatte –, sagte dazu etwas wie
du musst verrückt gewesen sein
.
Bis auf Mrs. Travers, die auf eine Handelsschule statt auf ein richtiges College geschickt worden war, weil man ihr eingetrichtert hatte, dass sie zu etwas nütze sein müsse, und die sich jetzt sehnlichst wünschte – sagte sie –, sie hätte sich stattdessen oder vorrangig den Kopf mit all dem vollgestopft, das zu nichts nütze war.
»Obwohl Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen müssen«, sagte sie. »Stühle mit Rohrgeflecht zu versehen ist natürlich eine nützliche Tätigkeit. Wir werden schon sehen.«
Was sehen? Grace hatte überhaupt keine Lust vorauszudenken. Sie wollte, dass das Leben genauso weiterging, wie es gerade war. Durch den Tausch von Schichten mit einem anderen Mädchen hatte sie es geschafft, sonntags nach dem Frühstück frei zu haben. Das bedeutete, dass sie samstags immer bis spät abends arbeiten musste. Praktisch bedeutete es, dass sie Zeit mit Maury gegen Zeit mit Maurys Familie getauscht hatte. Maury konnte jetzt nicht mehr mit ihr ins Kino gehen, keine richtige Verabredung
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