Tricontium (German Edition)
Wachstäfelchen mit einer gewundenen Reihe von Buchstaben zu versehen, die selbst für Ardeijas unkundige Augen nicht so wirkte, als hätte sie auch nur ansatzweise etwas mit dem Hochgericht zu tun. Der Schreiber war so vertieft in seine Beschäftigung, dass er sie erst unterbrach, als Ardeija, der schon eine ganze Weile vor ihm gestanden und die scheinbar mühelosen Bewegungen des Griffels verfolgt hatte, sich vernehmlich räusperte.
Oshelm sah endlich auf. »Ah, Ardeija. Zurück mit viel Arbeit für uns?«
»Mit gar keiner«, gestand Ardeija. »Toste soll zwar vorgestern einen teuren Gürtel vom Markt mitgenommen haben und ist nun unten« – wie konnte man nur so schnell eine Notiz über den Vorfall anfertigen, wie Oshelm es nun noch im Zuhören ganz nebenbei tat? – »aber ich nehme an, dass Frau Herrad die Sache ans Niedergericht verweisen wird, das sich bisher nicht darum gekümmert hat. Der Marktaufseher wollte ihn nur loswerden. Was wird das da eigentlich?« Er deutete auf die Wachstafel.
Oshelm lächelte, als sei er auf seine Kritzelei auch noch stolz. »Ein Wörterwurm … Ein Buchstabenrätsel, wenn Ihr so wollt. Sehr lehrreich, aber vor allem vergnüglich. Ich musste unseren beiden fleißigen Helfern dort doch eine Belohnung in Aussicht stellen! Sie werden ihren Spaß daran haben.«
Ardeija sah in den hinteren Raum hinüber, wo Rambert und Wulfin sich eben nur zu gern von Gjuki ablenken ließen, der beschlossen hatte, ihnen Gesellschaft zu leisten und gar nicht erst zu viel Ordnung entstehen zu lassen.
»Oshelm … Habt Ihr je darüber nachgedacht, dass nicht alle Kinder lesen können?«
Der Sinn dieser Frage schien dem Schreiber nicht bewusst zu werden, denn er sah Ardeija leicht tadelnd an, als sei die Bemerkung überflüssig gewesen. »Das hier ist ja auch nicht für irgendwelche Kinder bestimmt«, sagte er schließlich und fuhr fort, den Wurm noch länger und furchterregender zu machen.
Es widerstrebte Ardeija sehr, noch deutlicher zu werden, doch Oshelm zu verärgern war immer noch besser, als später Rambert weinen sehen zu müssen, wenn sie denn weinte und nicht von Theodulf gelernt hatte, dass ein Krieger auf diese Art der Gefühlsäußerung besser verzichtete. »Wie es in der Hinsicht um Wulfin bestellt ist, wisst Ihr sicher besser als ich, aber« – er senkte nach einem weiteren Blick zu den Kindern hinüber die Stimme – »von wem sollte Rambert so etwas gelernt haben? Nicht von meinem Vater, und ihre Mutter war Weberin, soweit ich weiß, keine Gelehrte!«
»Von wem? Das weiß ich nicht«, sagte Oshelm. »Aber sie kann sehr schön ihren Namen schreiben. Dann wird sie wohl auch lesen können.« Er wies beiläufig auf den Rand irgendeiner Liste, die halb unter der Tafel hervorragte. Jemand hatte sehr sauber und zierlich »Lucia Ramberta« dorthin geschrieben; weiter unten war von jüngerer und ungeduldigerer Hand ebenso schief wie schwungvoll »Wulfin« hinzugefügt worden. Wer für den eher ungeschickt gezeichneten Drachen daneben verantwortlich war, ließ sich nicht auf den ersten Blick feststellen.
»›Lucia‹«, sagte Ardeija. »Das ist doch schön.«
»›Rambert‹ ist schöner«, behauptete Rambert und kam doch zu ihm herüber, als habe er sie gerufen und nicht nur den Klang ihres anderen Namens erprobt; zu Wulfins großer Enttäuschung huschte Gjuki ihr nach, um dann wieder auf Ardeijas Schulter zu klettern. »Über ›Lucia Ramberta‹ haben immer nur alle gelacht. Über ›Rambert‹ keiner.«
Ardeija konnte sich lebhaft vorstellen, wie viele Hänseleien ein Kind zu ertragen hatte, das in einer Weberhütte groß wurde und doch zwei Namen hatte wie eine vornehme Dame mit römischen Vorfahren. In seiner eigenen Kindheit hatte er sich schließlich selbst mit genügend Dummköpfen prügeln müssen, die behauptet hatten, »Ardeija« sei überhaupt kein richtiger Name, und wenn doch, dann kein guter. »Das war nicht recht. Keiner deiner Namen ist zum Lachen«, sagte er fest. »Du liest und schreibst?«
»Ja, schon seit drei Jahren.«
Ardeija fragte nicht, wie sich die Gelegenheit ergeben hatte, an solche Kenntnisse zu gelangen. Einem Mädchen, das Theodulf, der gewiss nicht der zugänglichste Mensch auf der Welt war, überzeugen konnte, ihm ungeachtet seiner Herkunft Unterricht zu erteilen, war zuzutrauen, auch einen mitleidigen litteratus zu finden.
»Du machst das auch sehr gut«, lobte er stattdessen und hoffte, dass es noch lange dauern würde, bis Rambert erkannte,
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