Trieb: Paul Kalkbrenner ermittelt. Bd. 3 (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
bestätigt hatte. »Glaubst du, Manuel ist abgehauen?«
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete er ohne ein Zögern.
»Dann rufen wir die Krankenhäuser an«, schlug sie vor.
»Ja, das können wir machen. Geht auch viel schneller«, befand Alan.
Ein weiterer beängstigender Gedanke schoss Anna durch den Kopf. »Und was ist, wenn …?« Sie wagte nicht, ihn weiterzuspinnen.
Aber Alan begriff auch so. Er sprang aus dem Auto und eilte Richtung Schönhauser Allee. »Kümmere du dich um die Krankenhäuser. Ich laufe seinen Schulweg ab.«
61
Musik schlich sich in Taboris Bewusstsein. Es waren keine Lieder, die er kannte, aber die bloßen munteren Klänge verbesserten seine Stimmung schlagartig. Aidans zerzauster Schopf erschien, und alles war wieder gut.
»Ey, werd mal wach!«
Tabori wurde von hellem Licht geblendet. Er blinzelte schlaftrunken.
»Mensch, Junge, was machst du denn hier?«
Der Kegel der Taschenlampe fiel auf den Boden. Dahinter war ein Mann in Uniform zu erkennen. Nein, keine Uniform, kein Polizist. Es war ein Bauarbeiter in schmutzigem Overall.
»Du kannst hier nicht schlafen.«
Wo denn dann? Etwa in der Kälte?
»Wir reißen die Hütte gleich ein.«
Tabori, der kaum ein Wort verstand, nahm seine Jacke und flüchtete nach draußen. Die Stadt hielt noch immer ihren kalten Winterschlaf. Einzig die Baustelle wurde von hellen Strahlern erleuchtet. Ein Baggermotor startete mit monströsem Getöse, dann grub sich die Schaufel in die Mauer, und binnen Sekunden zerfiel Taboris Unterkunft zu Schutt. Bräunlicher Staub vermengte sich mit den Schneeflocken, die vom Himmel schwebten.
Niedergeschlagen suchte Tabori das Weite. Viele Räumfahrzeuge waren schon unterwegs, und an jeder Kreuzung kämpfte sich der Junge durch die Schneehaufen am Bordstein, nur um am nächsten Übergang erneut in ihnen zu versinken. Bald waren seine Hosenbeine durchnässt, seine Schuhe sowieso, und seine Zehen mutierten zu Eiszapfen. Er konnte sich nicht einmal die Zeit in Kaufhäusern vertreiben, weil es noch zu früh war. Auch in den Wohnungen brannte kaum ein Licht.
Bei einem blauen Schild mit weißem U führte eine Treppe unter die Erde. Aus der Tiefe dampfte warme Luft. Die Stufen mündeten in einen Gang, der zu einem Bahnsteig führte. Ein Zug, der einen Schwall stickiger Luft vor sich hertrieb, rauschte heran. In den Waggons hockten fast ausschließlich verschlafene Pendler. Die meisten von ihnen hatten ihre Augen geschlossen, wahrscheinlich fuhren sie heim, wo es warm war, oder zur Arbeit in eine Fabrik, wo sie zur Frühschicht eingeteilt waren.
Mit einem Mal schrillten zwei Sirenen abwechselnd über den Bahnsteig. Kurz darauf schlossen sich die Türen, der Zug raste in den Tunnel und hinterließ gespenstische Stille, die nur durch das Knurren von Taboris hungrigem Magen durchbrochen wurde.
Zwischen dem Zeitungskiosk und der Bäckerbude, die beide noch geschlossen hatten, ließ er sich auf eine Bank sinken. Der Plastiksitz drückte hart in seinen Po, aber hier unten war es immer noch besser als an der Oberfläche mit Frost und Schnee. Zwei Plätze weiter schnarchte ein Mann. Plötzlich kippte seine Hand mitsamt einer Flasche zur Seite, und der Bierrest tropfte auf die Hose. Tabori dachte darüber nach, ihn darauf hinzuweisen, ließ es aber bleiben.
Stattdessen begann er, seine eigene Hose von Katzenhaaren zu befreien. Zärtlich strich er mit den Fingern darüber. Trotzdem fühlte es sich anders an als der weiche, warme Katzenkörper. Er vermisste das Schnurren der Katze. Genauso stark, wie ihm Aidan fehlte. Und Gentiana. Seine Mutter. Mickael.
Plakate jenseits der Gleise warben für das Konzert einer Gruppe, die Tabori nicht kannte. Daneben hatte ein Möbelhaus seine neue Bettenkollektion abgelichtet. Tabori sehnte sich sein warmes Bett zu Hause in Gracen herbei. Und die Gitarre seines Opas. Er begann zu summen, aber diesmal fehlten dem
Povijn ’krushqi
die Wärme und das Glück. Das Lied klang leer und sinnlos.
Tränen sammelten sich in Taboris Augen. Es war ihm schnuppe. Bis auf den Betrunkenen war er alleine auf dem Bahnsteig. Er brauchte sich für nichts zu schämen.
Berliner Kurier, Freitag, 13. Januar
Mordfall Rudolph Fielmeister
Fahndungserfolg in Amsterdam
Von Harald Sackowitz
Berlin. Geschnappt: Marten Peglar, Stiefbruder des ermordeten Unternehmers Rudolph Fielmeister, wurde gestern in Amsterdam gefasst.
Nach wie vor erteilt die Polizei keinerlei Auskünfte über die eventuelle
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