Trieb
konnte.«
Unruhe am Rand des Pressepulks erregte ihre Aufmerksamkeit. Ruppig drängelten sich ein Mann und eine Frau an den Reportern vorbei.
Anna konzentrierte sich wieder. »Manuel ist also noch immer verschwunden. Ich weiß nicht, wo er ist, und ich weiß auch nicht, bei wem er ist, aber ich bin davon überzeugt, dass er lebt. Deshalb möchte ich Manuel auf diesem Wege sagen, dass er keine Angst haben muss. Ich bin bei ihm. Ich liebe dich, mein Schatz. Und dein Vater«, sie drückte Alans Hand, »dein Vater liebt dich auch.«
Der forsch voranschreitende Mann ließ den Kordon aus Polizisten und seine weibliche Begleitung hinter sich. Wenige Meter vor Anna blieb er stehen. Seine Miene war ausdruckslos.
»Manuel ist noch ein Kind. Ich bitte Sie, haben Sie ein Herz und …« Ihre Stimme erstarb. Annas Blick fand den des Mannes. Die Fragen der Reporter setzten wieder ein, aber sie hörte sie nicht mehr. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wie in Zeitlupe begriff sie: Das Gesicht des Mannes war nicht ausdruckslos, es kündigte das Furchtbarste an, das sie sich vorzustellen gewagt hatte.
Gott ist nicht mit mir.
Dann gaben ihre Beine unter ihr nach.
96
Das Läuten schien vergeblich zu sein. Niemand meldete sich. Hatte Heiko seinem Kumpel Christian vielleicht gar nicht Bescheid gegeben? Sackowitz wollte ihn anrufen, hätte aber dazu sein Handy, das er auf dem Weg nach Kreuzberg ausgeschaltet hatte, wieder aktivieren müssen.
Besser nicht!
Er konnte sich zwar nicht ernsthaft vorstellen, dass sich die Polizei in der Kürze der Zeit schon um die Ortung seines Mobiltelefons bemüht hatte – ganz zu schweigen von der Frage, ob dieser Aufwand sich für ihn überhaupt lohnen würde –, aber sicher war sicher. Erneut drückte Sackowitz auf den Klingelknopf und ließ es läuten – lange.
Eine gefühlte halbe Ewigkeit später bellte ihm tatsächlich eine Stimme aus der Gegensprechanlage entgegen. »Ja, verflucht. Sonst noch Probleme?«
»Ich bin Harald Sackowitz. Herr Richter schickt mich.«
»Ich weiß, Heiko hat angerufen. Aber musst du deshalb Sturm klingeln? Anton hat sich zu Tode erschreckt.«
Hüte dich vor Anton.
»Das tut mir wirklich leid, aber Herr Richter sagte, Sie könnten mir helfen.«
»Na, wenn er das sagt?« Ein paar unflätige Flüche drangen aus dem Lautsprecher auf den Bürgersteig der Oranienstraße hinaus. »Komm ins Hinterhaus, erster Aufgang, zweite Etage. Und hör bloß auf, mich zu siezen. Klingt ja fürchterlich.«
Im angegebenen Stockwerk sprang eine mit Flyern und Stickern übersäte Tür auf. Sackowitz folgte einem langgezogenen Flur mit niedriger Decke, in dem mehrfach überklebte Plakate an alle erdenklichen Underground-Partys der letzten zehn Jahre erinnerten. Durch ein Fenster konnte Sackowitz erkennen, wie sich in einem winzigen Innenhof ein hagerer Baum zwischen Mülltonnen in den grauen Nachmittagshimmel wand.
Christian war das genaue Gegenteil von Heiko: groß, kurze Haare, dazu trug er Pullover und Shorts. »Du kommst gerade richtig zum Frühstück.«
»Später vielleicht, danke«, lehnte Sackowitz ab.
»Wer redet denn von dir?« Christian schlappte in ein Zimmer, pickte mit einer Pinzette einen Regenwurm aus einer Plastikdose und trug ihn behutsam zu einem der beiden Terrarien hinüber. »Ich meine Anton.«
Eine Schlange glitt durch den hellen Wüstensand und umkreiste ihr wild zuckendes Frühstück.
»Anton ist eine Strumpfbandnatter. Gestern waren wir beim Tierarzt. Er ist verschnupft und hat nur wenig Appetit.«
Das breite Maul der Schlange stülpte sich Stück für Stück über den Regenwurm, der sich gegen die Verdauung mit Leibeskräften wehrte. Ohne Erfolg.
»Den Eindruck habe ich aber nicht«, befand Sackowitz.
»Ist auch kein Wunder.« Christian bugsierte einen weiteren Regenwurm in den Glasbehälter. »Wir waren ja beim Tierarzt.«
Angewidert wandte Sackowitz sich ab. Der Inhalt des zweiten Terrariums behagte ihm da schon eher, auch wenn er partout nicht begreifen mochte, was Leute an Geckos finden konnten. Den lieben langen Tag klammerten sich die Echsen an einen winzigen Baumstamm und starrten mit der lähmenden Gleichgültigkeit ihrer Glubschaugen in die Weltgeschichte – oder eben in die hoch technisierte Einraumwohnung, als die sich Christians Zuhause entpuppte. Außer einem Hochbett entdeckte Sackowitz nur noch einen Haufen vernetzter PCs – oder Macs. Von Anzeichen einer Küche fehlte in der Bude jede Spur, ganz zu schweigen von einer Couch, einem
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