Trieb
anstrengend. Nicht nur für dich. Da rutschen einem schnell Dinge heraus, die man eigentlich nicht so meint. Es tut mir leid.«
Anna wusste, dass sie sich in den zurückliegenden Tagen mehr als einmal nicht hatte beherrschen können, aber in dieser Sekunde ging es nicht um einen Konflikt verzweifelter, aufgewühlter Seelen. Da war noch etwas anderes, etwas Unverständliches, und es bereitete Anna Angst.
Ganz viel Angst.
»Aber heute Morgen waren die Soldaten noch nicht in deiner Tasche. Es war die mit dem Loch. Weißt du?«
»Dann musst du sie wohl übersehen haben.«
Anna mochte zwar niedergeschlagen und durcheinander vor lauter Trauer sein, aber daran, dass die Tasche leer gewesen war, konnte sie sich noch ganz genau erinnern. »Alan, warum belügst du mich?«
Ihr Mann maß das Kaffeepulver ab. Als er fertig war, klappte er den Deckel auf die Maschine, die sofort blubbernd das Wasser aufzukochen begann. »Ich belüge dich nicht.«
Das tust du wohl!
Als könnte der Teddybär sie wie ein Schutzschild vor der hässlichen Wahrheit schützen, drückte sie ihn fest an ihre Brust. »Woher wusstest du am Donnerstagabend, dass Manuel verschwunden ist?«
»Das hast du am Telefon gesagt.«
»Nein, das habe ich nicht!«, schrie Anna. »Aber du, du hast Beruhigungsmittel für Kinder bei dir. Und fremdes Spielzeug in deiner Tasche. Du verheimlichst mir doch etwas. Was soll das alles?«
»Was willst du mir unterstellen?«
»Hast du etwas mit Manuels Verschwinden zu tun? Mit seinem …?«
Anna glaubte, ein entlarvendes Lächeln im Gesicht ihres Mannes zu erkennen, und die Vermutung wurde zur schockierenden Gewissheit. »Du warst es!«
So unverhohlen abschätzig er in diesem Moment auf sie herabblickte, so klar und eindeutig fügten sich die Dinge, die bisher unverständlich geblieben waren, für Anna zusammen. Plötzlich schmeckte sie Galle. Tränen trübten ihre Augen.
Durch einen Nebelschleier sah sie, wie Alan seine Hände nach ihr ausstreckte. »Anna, ich werde dich …«
Sie schleuderte den Teddybären in seine verlogene Visage, aber mit einer schnellen Handbewegung wischte er das Stofftier beiseite. Anna stolperte in die Diele und floh in den erstbesten Raum. Im Badezimmer verriegelte sie von innen die Tür. Alan stand auf dem Flur und hämmerte wütend gegen das schwere Holz, während er wie ein Irrer brüllte.
Benommen sank Anna auf die Fliesen. Der Raum um sie herum verschwamm vor ihren Augen.
Das ist doch alles nicht wahr!
Verzweifelt blinzelte sie in den Schein der Badezimmerleuchte.
Licht bedeutet Hoffnung.
Aber ihre Hoffnung war erloschen. Alles ergab plötzlich einen Sinn.
Doch was bringt das jetzt noch?
So viel Schrecken. So viel Leid. Es war mehr, als Anna ertragen konnte.
Sie wankte zum Schränkchen über dem Waschbecken. Aus der kleinen Schublade wühlte sie Aspirin, Beruhigungsmittel und andere Medikamente hervor. Aus einem Röhrchen kippte sie die Tabletten in ihre Handfläche, warf sie sich in den Mund und hielt anschließend den Kopf unter den Wasserhahn. Gierig trank sie. Schluckte noch mehr Tabletten. Und noch mehr Wasser. Bis keine Pillen mehr übrig waren.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht war verzerrt, glich vielmehr einer zornigen Fratze, die sie anklagte:
Du bist schuld!
Weil Anna das Offensichtliche nicht erkannt hatte.
Weil du nur mit dir selbst beschäftigt warst
. Wie immer. Von Anfang an.
Mein Manuel
,
mein Schatz. Mit dir hat es den Falschen erwischt.
Sie schaute noch einmal auf das Tablettenröhrchen.
Diesmal kommt der Tod zur Richtigen.
Schweiß brach ihr aus. Dann raste mit höllischer Geschwindigkeit eine Nebelwand heran, der Dunkelheit folgte. Und Stille. Und endlich Frieden.
Berliner Morgenpost, Sonntag, 15. Januar
Identifizierte Kinderleiche
Manuel (10) wurde ermordet
Berlin. In einem Teich im Ortsteil Schmargendorf wurde die Leiche des vermissten Manuel gefunden. Der Zehnjährige wurde ermordet. Details zur Tat will die Polizei noch nicht bekannt geben.
Manuel sei einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, so der Leitende Oberstaatsanwalt Jürgen Heindl. Die Ergebnisse der Obduktion lägen noch nicht vor und könnten auch später aus ermittlungstaktischen Gründen nicht veröffentlicht werden. Jürgen Heindl betonte: »Es geht uns jetzt primär darum, den Täter dingfest zu machen und zur Verantwortung zu ziehen.«
Gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten Hartmut Diesel bat er um Verständnis, dass die Polizei nicht alle ihr bekannten Details zu der Tat
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