Trieb
dir?«
126
Für Paul Kalkbrenner war nichts in Ordnung. Gar nichts. Sein Schädel drohte, wie unter dem Kreuzfeuer eines Maschinengewehrs zu zerplatzen. Er zuckte unter dem Schmerz zusammen und wurde unsanft in den Tag entlassen.
Sein Hals war steif. Er blickte sich um. Er hatte auf dem alten Sofa seiner Mutter in verdrehter Haltung geschlafen.
Wieso eigentlich nicht im Bett?
Auf dem Tisch verhöhnte ihn eine halb leere Wodkaflasche. Das erklärte zwar einiges, nicht aber Bernies Bellen. Bis es an der Tür klingelte. Wohl nicht zum ersten Mal.
Kalkbrenner quälte sich von der Couch in die Senkrechte und Richtung Wohnungseingang. Als er die Tür öffnete, tobte der Hund um Jessy herum, die eine Tüte mit frischen Brötchen schwenkte. »Mein Gott, Paps, wie schaust du denn aus?«
»Wie denn?«
»Hast du noch nicht in den Spiegel geguckt?«
»Besser nicht.« Er trottete ins Bad und hielt den Kopf unter kaltes Wasser.
»Puh«, machte seine Tochter aus dem Wohnzimmer. »Hier riecht es, als hättest du … Du hast ja tatsächlich!« Mit dem Swiss Wodka
in der Hand lehnte sie sich an die Badezimmertür. »Geht es dir gut?«
»Inzwischen ja.« Er rubbelte sich das nasse Haar mit einem Handtuch trocken. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Du hast doch gar keine Kaffeemaschine.«
»Türkisch geht.«
»Und Küchenstühle fehlen dir auch noch.«
Unbeeindruckt von der freundlichen Nörgelei seiner Tochter trug er Butter, Aufschnitt und Käse ins Wohnzimmer. »Frühstück gibt’s nebenan.«
»Wie weit bist du denn in deinem Fall?«, wollte Jessy wissen, während sie sich zu beiden Seiten des Tisches niederließen.
»Lass uns lieber über etwas anderes reden.« Er belegte eine Brötchenhälfte mit Wurst und biss hinein. »Über dich zum Beispiel. Und Leif.«
Jessy kippte Milch in ihren Kaffee, gab Zucker hinzu und rührte in aller Seelenruhe darin herum. »Du weißt ja, dass Leif und ich zusammenziehen wollen.«
»Ja, du hast davon erzählt.«
»Wir wollen nicht ohne Grund in einer gemeinsamen Wohnung leben.« Sie bemerkte seinen wachsamen Blick. »Und nein, ich bin nicht
schwanger.«
»Ich habe ja auch nichts Derartiges behauptet.«
»Aber du hast es gedacht, als Leif sich gestern Abend fast verplappert hätte.«
»Verplappert womit?«
Jessy beäugte ihn aufmerksam über ihre Kaffeetasse hinweg.
»Herrgott«, entfuhr es ihm, »jetzt spann mich doch nicht noch länger auf die Folter!«
»Also gut.« Sie setzte eine ernste Miene auf. »Ich habe ein Kunststipendium bekommen.«
»Das ist doch toll!« Kalkbrenner wusste, wie sehr Jessy es sich gewünscht hatte, über ihr Studium hinaus Beachtung mit ihren Bildern zu finden. Offenbar war man endlich auf sie aufmerksam geworden. »Das freut mich wirklich!«
»In Frankreich.«
»Oh.«
»Für ein Jahr.«
Er legte sein halb gegessenes Brötchen zurück auf den Teller. »Sprichst du überhaupt Französisch?«
»Paps, ich habe acht Jahre lang Französisch in der Schule gehabt, da sollte das kein Problem sein. Außerdem geht es nicht darum, ob ich Französisch kann oder nicht.«
Und worum geht es dann?
»Leif und ich wollen gemeinsam nach Paris gehen und zusammenziehen«, sagte sie.
Das war es also, was sie ihm die letzten Tage über immer wieder versucht hatte mitzuteilen. »Was sagt deine Mutter?«
Jessy guckte ärgerlich. »Das ist alles, was dir dazu einfällt?«
»Nein, aber …«
»Du kannst dir doch denken, was Mama davon hält!«
Ellen, Jessys Mutter, Kalkbrenners Exfrau, hatte die Familie immer zusammenhalten wollen. Als sie gemerkt hatte, dass ihr Mann sich gefühlsmäßig immer stärker von ihr entfernte, hatte sie sich an ihre Tochter geklammert. Schon als Jessy sich eine eigene Wohnung suchen wollte, waren dem Auszug endlose Dispute vorausgegangen. Wenn ihre Tochter jetzt nach Paris zog, dann würde sie sich fühlen, als ob …
Aber wie fühlst du dich?
Seine Mutter lag im Sterben. Seine Tochter zog ins Ausland. Mit seinem Kollegen Berger, der mal sein Freund gewesen war, war er sich nach wie vor spinnefeind. Und er? Er war auf der Suche nach einem Kinderserienmörder. »Nun, ich kann jedenfalls nicht behaupten, dass ich begeistert wäre.«
»Ich möchte aber, dass du akzeptierst, dass …«
»Jessy, ich sagte: ›Ich bin nicht begeistert.‹ Ich sagte nicht: ›Ich akzeptiere es nicht.‹ Denn das tue ich. Ich meine, deine Entscheidung akzeptieren. Ich würde dir niemals Steine in den Weg legen.«
»Das würde dir sowieso nicht
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