Triestiner Morgen
in der Sonne wie Feuer, ein lebendiges, geheimnisvolles Flammenrot, wild und unbezähmbar. Jeder Friseur ist noch bei dem Versuch, meine Lockenpracht zu zähmen, gescheitert.
Den Mund leicht geöffnet, die Augen glänzend, streichle ich meinen dichten, rotblonden Flaum, der Druck meiner Finger wird fester und fordernder, stöhnend lasse ich meiner Lust freien Lauf.
»Müssen wir diese alte Geschichte unbedingt wieder aufwärmen? Du bist frei, die Vergangenheit ist tot«, sagt Giorgio, »laß uns doch endlich vergessen.«
»Vergessen? Wovon sprichst du? Ich habe zwanzig Jahre damit verbracht, nicht zu vergessen, keine Sekunde, keinen Augenblick. Ich werde ewig mit den Erinnerungen leben. Und was bedeutet schon Freiheit? Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Wir sind alle Gefangene unserer Vergangenheit, du genauso wie ich.« Ein Hustenanfall erstickt seine letzten Worte.
»Das möchte ich bezweifeln«, murmelt Giorgio.
»Hier stinkt’s wie die Pest!« Mit angewiderter Miene versetzt Enrico einer toten Katze einen Tritt, setzt die Rotweinflasche an den Mund und nimmt einen kräftigen Schluck.
»Vielleicht solltest du weniger trinken ...«
»Ich habe zwanzig Jahre lang keinen Rotwein zu Gesicht bekommen, geschweige denn getrunken.«
»Ich habe es nur gut gemeint.«
»Ja, so wie du es damals, als du es mit Gina getrieben hast, nur gut mit mir gemeint hast.«
Giorgio schüttelt den Kopf und tut so, als würde er sich die Ohren zuhalten.
»Kannst du nicht endlich damit aufhören? Seither ist so viel Zeit vergangen, und außerdem ...«
»Du hast es dir immer leicht gemacht, bist immer den einfacheren Weg gegangen. Ja, du hast immer alles richtig gemacht, Giorgio.«
»Ich bin dir beim Prozeß nicht in den Rücken gefallen, ich habe sogar für dich ausgesagt.«
»Ja, ja, ich weiß, ich erinnere mich noch an jedes Wort von dir. Du hast behauptet, ich sei nicht eifersüchtig gewesen und hätte außerdem nicht gewußt, daß sie intime Beziehungen zu anderen Männern hat, ich sei völlig ahnungslos gewesen. Ja, ich weiß, du hast mich nicht angeschwärzt, du hast mich einfach nur als gutmütigen und gutgläubigen Trottel hingestellt. Das war sehr nett von dir!«
»Ich verstehe, daß du verbittert bist, kein Wunder nach all den Jahren im Knast. Aber du hast dafür bezahlt, mein Freund, es ist vorbei.«
»Hast du dir niemals die Frage gestellt, ob es nicht ein anderer getan haben könnte?«
»Ehrlich gesagt, nein. Anfangs habe ich es nicht glauben wollen, ich hab dir so eine bestialische Tat nicht zugetraut. Doch so vieles hat gegen dich gesprochen, zum Beispiel deine Fingerabdrücke auf der Tür und auf dem Bett. Und der Hotelbesitzer hat ausgesagt, daß du mit blutbeschmierten Händen die Treppe hinuntergerannt bist ...«
»Gehen wir ein bißchen spazieren. Ein altes Zugabteil, ein neumodisches Bahnhofscafé und ein abbruchreifes Bürogebäude, soll das alles sein, was ich in der Freiheit zu sehen bekomme?«
»Du hast doch gewollt, daß wir uns hier treffen.«
»Ja, weil ich die Docks wiedersehen wollte. Alles hat sich verändert, ich weiß.«
Giorgio nickt zerstreut, er hat offensichtlich keine Lust, noch mehr Zeit in Gesellschaft seines Jugendfreundes zu verbringen, und betont, daß die Sonn- und Feiertage, die einzigen Tage sind, die er seiner Familie widmen kann.
»Außerdem muß ich noch den Braten ins Rohr schieben. Meine Frau kann sich nicht beklagen, ich bin ein perfekter Hausmann geworden. Staubsaugen ist allein meine Sache, und ich trage auch immer die Abfälle hinunter.«
»Tüchtig, tüchtig ...« Enrico klopft ihm auf die Schulter und überredet ihn schließlich doch weiterzugehen.
»Sollen wir deinen Koffer in meinen Wagen geben?«
»Nein. Da drinnen ist alles, was ich besitze. Ich trenne mich nicht noch einmal davon.«
Enrico schaut aufs Meer, auf die graublauen Wellen, die den Schmutz der ganzen Stadt zurück an Land schwemmen. Die gefürchteten Herbststürme haben die Kaimauer zum Teil überflutet.
»Ich hätte damals zur See gehen sollen, anstatt diesen langweiligen Bürojob anzunehmen. Nur ihr zuliebe habe ich mich an den Schreibtisch fesseln lassen, ich habe ihr das Schicksal einer Matrosenbraut ersparen wollen.«
Sie schlendern vorbei an aufgelassenen Docks und leerstehenden Lagerhallen. Von den Docks führen Schienen weg, sie sind überwachsen mit Gras und enden im Nichts.
Zwischen all diesen stummen Zeugen der Zerstörung und des Verfalls herrscht rege Bautätigkeit.
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