Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
ich plötzlich wieder realisiere, dass es andere Dramen gibt, so dramatisch, dass das eigene Pech eher lächerlich und nicht der Rede wert scheint. Owen C. hatte über zwanzig Jahre seines Leben verloren, ich nur über 20 000 Euro. Und das Überraschende: Der Typ war cool, brannte nicht vor Hass auf jene, die ihn hinter Gitter gebracht hatten. Ein ganz einfacher Mensch, aber ein Riesenherz. Als jetzt sein Gesicht vor mir auftaucht, spüre ich wieder die Bewunderung für einen, der es klüger anstellte, der ganz andere Zumutungen hinter sich hatte als ich.
Während der Reise durch Indien habe ich ein Buch gelesen, Letters from the Dhamma Brothers . Herausgegeben und kommentiert von Jenny Phillips, einer Psychologin. Wer die 224 Seiten zur Hand nimmt, soll wissen, auf was er sich einlässt. Gemeinsam mit Freunden organisierte die Therapeutin ein zehntägiges Vipassana-Retreat in einer amerikanischen Haftanstalt, in der Donaldson Correctional Facility , einem Hochsicherheitstrakt in Alabama. Eine moderne Festung für 1500 Schwerstverbrecher, inklusive jener, die auf der »death row« auf ihre Exekution warten. Die Gesamtzahl der Jahre, zu denen sie hier verdammt wurden, reicht wohl für eine kleine Ewigkeit.
Die Idee, dass eine Meditationstechnik aus Buddhas Zeiten den Insassen helfen könnte, nicht an ihrem Schicksal zu zerbrechen, war geradezu revolutionär. Phillips erwähnt zuerst die Schwierigkeiten, die überwunden werden mussten, um die zuständigen Autoritäten vom Sinn und Zweck der Übung zu überzeugen. Denn in Zuchthäusern wird gezüchtigt: die Wächter die Bewachten und die brutalsten Bewachten die weniger brutalen. Mit Knüppeln, Fäusten, Messern. Bis hin zum Totschlag. Spricht hier einer von Nachsicht und Verzeihen, dann spucken sie auf den Boden und fluchen. Züchtigen züchtet Männer mit kalten Herzen. Wie sinnig: Hinter den tödlich geladenen Stacheldrahtzäunen fließt der Black Warrior River .
Doch Vipassana geht von der Prämisse aus, dass kein menschliches Wesen auf immer verloren ist. Dass in jedem etwas verborgen ist, das sich nach Hingabe, nach Lieben und Geliebtwerden sehnt. Nach drei Jahren kommt die Zusage, im Januar 2002 findet der erste Kurs statt, der erste dieser Art in einem amerikanischen Gefängnis. Auch aus der Einsicht heraus, dass das Maß an Gewalt und Hoffnungslosigkeit erreicht war.
Die Turnhalle wird zur Dhamma Hall unfunktioniert, jeder bringt seine eigene Matratze mit, Schlafkojen werden improvisiert, die Kissen in Reih und Glied platziert, drei »free-worldmen«, drei Meditationslehrer, werden eingelassen, alle Zugänge verschlossen, keiner kann raus oder rein. Und die ersten zwanzig Freiwilligen nehmen an einem Experiment teil, das sie auf spektakuläre und unspektakuläre Weise zugleich verändern wird.
Das Buch veröffentlicht auch die Briefe der Dhamma-Brüder , jener Teilnehmer, die nach den zehn Tagen nicht aufgegeben haben und mit namenloser Selbstkontrolle in dem Chaos, dem Geschrei, den Wutausbrüchen, dem vollkommenen Mangel an Rückzugsmöglichkeiten – entweder in riesigen Schlafsälen oder winzigen Dreimann-Zellen – weitermeditierten, sogar noch zweimal die Gelegenheit bekamen, das zehntägige Experiment zu wiederholen.
Vipassana ist ein altes Paliwort und heißt »Einsicht«, heißt »auf seine Wirklichkeit schauen«. Es ist ein technischer Ausdruck, ohne jede Anspielung auf Gott, eine Gottheit, eine Ideologie. Schauen. So wie du bist. Auch nicht wegsehen von »Duk-kha«, dem Leid. Und sie schauten hin.
Kann ein Außenstehender je den Schmerz eines Menschen ahnen, der für seine Tat – als Mehrfachmörder oder Einbrecher mit Waffengewalt – »life without parole« bekam? Lebenslänglich ohne die Möglichkeit, je als Lebendiger wieder in die »freie Welt« zurückzukehren.
Was Letters from the Dhamma Brothers so bewegend macht, sind nicht die schriftlichen Nachrichten von sechsunddreißig erleuchteten Briefschreibern. Es sind die oft herzzerreißend innig beschriebenen Kämpfe jedes einzelnen, um in diesem Bunker aus Düsterkeit und geistiger Öde zu überleben. Eben als Mensch, nicht als zynismus-verhornter Zyklop. Und die Briefe erzählen vom Wandel, von der Fähigkeit, die Instinkte der Rachsucht und der Vergeltung zu deprogrammieren. Immerhin soweit, dass selbst den anderen die Veränderung auffällt. Und hinter dem Rambo der Mensch zum Vorschein kommt, der sich nicht mehr automatisch zu einer Gewaltreaktion provozieren lässt, nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher