Trinken hilft
verletzendes Wort genug freien Platz neben sich schaffen, um sich breit zu machen, die Lehne nach hinten zu klappen und die Augen zu schließen. Im Bus wäre man niemandem verpflichtet und doch nicht allein, lauschte mit halbem Ohr dem einlullenden Gemurmel der anderen. Einfach perfekt.
In der Nacht vor dem großen Tag wälzte ich mich unruhig im Bett hin und her. Reisefieber. Alle nur denkbaren Unglücksvisionen marterten mein Hirn. Das Tunnelunglück vom letzten Jahr, übermüdete Busfahrer, die ganze Schulklassen auslöschten, Bergrutsch, Lawinen – eigentlich sollte man keinen Fuß vor die Wohnung setzen. Aber nun – ich hatte gebucht, man rechnete mit mir. Bevor ich die ganze Nacht wie ein Verurteilter in seiner Todeszelle kein Auge zutat, griff ich zur Flasche. Mut antrinken ist eine Alternative zu Mut haben. Trinken hilft bei Reisefieber, erinnerte ich mich, empfohlen zu haben. Stimmt. Rotwein macht schläfrig und vertreibt die Gespenster. Beinahe hätte ich verschlafen. Die Tilsiterstulle mit Zwiebeln überlebte meine Abreise im Kühlschrank.
Mit wehenden Rockschößen hechtete ich auf den Bus zu und ließ mich auf den erstbesten Sitz sinken. Die Dame neben mir rückte ein wenig ans Fenster, um mir Platz zu machen, und klappte ihr Buch zu. Neurotisch wie ein Entlassener nach langjähriger Einzelhaft witterte ich Gesprächsbereitschaft und wollte instinktiv zu meiner Lektüre greifen, dem Spiegel. Darin kann man sich ein paar Stunden lang vergraben. Aber der Spiegel schlummerte in meinem Gepäck, und das hatte der Busfahrer eben im Frachtraum verstaut. Stopp!, wollte ich ihm zurufen, ich brauche noch was aus dem Koffer! Doch er lenkte den Bus bereits zügig Richtung Autobahn und stierte grimmig durch die Scheibe. Der würde vor der Schweizer Grenze nicht mehr anhalten. Das fing ja gut an. Auch mein Flachmann befand sich im Koffer. Pech auf der ganzen Linie. Hoffentlich wird bald jemandem schlecht, wünschte ich mir, eine erzwungene Kotzpause wäre meine Rettung. Die Dame neben mir klappte ihr Buch noch immer nicht auf, was fiel der eigentlich ein? Ich bin doch nicht ihr Entertainer, die soll gefälligst lesen!
Ich schielte nach links, um den Titel zu erspähen. Sicher so ein Utta-Danella-Schinken mit Happy End, ich weiß doch, was alleinreisende Tussen bevorzugen. Ich hatte wohl etwas zu auffällig nach links geschielt. Jedenfalls zeigte sie auf das Buch, hielt es mir hin und bemerkte dazu, eine Freundin, die Erfahrung mit Kreuzfahrten habe, habe es ihr als Reiselektüre mitgegeben. Mitsamt einem Karton Piccolos für die Anfahrt. Ob ich es kannte? Und ob ich es kannte! Zweifellos besser als jeder Leser. Ich war so verdutzt, dass es mir die Sprache verschlug. Meine Nachbarin wähnte sich in Erklärungsnot. Natürlich sei sie keine Alkoholikerin, keine Sorge, aber auch keine militante Abstinenzlerin. Wenn man aus einer Weingegend stamme, sei man geeicht und würde sich nicht mit Cola vergiften wollen. Das überließe sie lieber den Amerikanern, diese Selbstzerstörung mit chemischen Waffen. Sie wisse einen edlen Jahrgang jederzeit zu schätzen, und gerade auf Reisen solle man es sich gut gehen lassen. Ob ich mit ihr anstoßen wolle?
Sie holte aus ihrem Beautycase zwei Piccolos hervor, einen anständigen Kupferberg Gold, und reichte mir ein Fläschchen. Kann man als Gentleman ein solches Angebot ausschlagen? Eigentlich sah die Lady ganz passabel aus, sportlich, leger, nicht aufgedonnert. Vielleicht doch keine Tusse, korrigierte ich mein Vorurteil und nahm an. Sie hatte sogar Pappbecher an Bord. Sie heiße Christa, sagte sie beim Anstoßen. Langsam wurde es Zeit, dass ich auch mal was äußerte. Wohin reisen Sie? ist eine bewährte Eröffnungsfloskel. Da fiel mir ein, dass wir in diesem Bus alle dasselbe Ziel hatten. Also schwang ich mich zu der dämlichen Frage auf, ob es ihre erste Kreuzfahrt sei. So dämlich war die Frage gar nicht, denn sie ermunterte Christa zu einer ausschweifenden Schilderung der Lebensumstände, die sie zu dem Entschluss gebracht hatten, die noch immer winterliche Heimat für eine Reise in den ewigen Frühling zu verlassen.
»Haben Sie einen Ofen?«, wollte sie wissen.
»Einen Ofen, also einen Herd, klar, aber den benutze ich nie«, erwiderte ich schnell, bevor sie voreilige Schlüsse daraus ziehen und mich als häuslichen, kochbegeisterten Heiratskandidaten ins Auge fassen konnte. »Ich schiebe meine Pizzen in die Mikrowelle, ich koche nicht«, gestand ich wahrheitsgemäß. Aber
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