Trinken hilft
Aber was soll’s? Wir leben nur einmal, und jetzt Prost, meine Schöne.« Er hielt mir sein Glas zum Anstoßen hin.
»Meine Schöne« , hatte er gesagt, ich war völlig durcheinander. Ich war über siebenundfünfzig. Rune erinnerte mich morgens immer an die Gymnastik, sonst wirst du zu dick, betonte er. Bin ich schön ? Nach dreißig Jahren Ehe erinnert man sich nicht mehr an das letzte Kompliment. Neulich, bei der Anprobe von orthopädischen Schuhen, entschlüpfte dem jungen Verkäufer der Satz: »In Ihrem Alter kommt es ja nicht mehr so auf Chic an …« Aber nun, mit einem Mal, brachte mich dieses Zauberwort zum Klingen. Oder waren es nur die Gläser? Nein, in meinen Ohren pulsierte ein warmer Grundton, schwoll an und verbreitete sich über die Adern bis in die innersten Zellen. Ein überwältigendes Echo auf diese schlichte Galanterie, als wäre ich ein Klangkörper, der mit einem einzigen Strich zum Leben erweckt wurde. Ich spürte jede Pore meiner alternden Haut, sie straffte sich unter dem wohlwollenden Blick meines Gegenübers wie unter einer Ladung Botox. Alles in mir straffte sich, erblühte und warf die Jahre ab, die verbrauchten und nicht mehr gezählten, wie dürres Laub.
Was soll ich sagen? Für die Dauer von ein paar genussvoll gerauchten Pfeifen und Zigaretten, für die Dauer von zwei Flaschen Wein blieb die Zeit stehen. Wir überließen uns den Worten, die sich über den dichter werdenden Qualm hinweg ablösten, dem unermüdlichen Austausch zweier Seelen, die sich in ihrer bedürftigen Unvollkommenheit gefunden und den Augenblick der Vollkommenheit erkannt hatten. Kein Gedanke an ein Vorher oder Nachher, an unsere abwesenden Ehehälften, wo auch immer sie sich gerade aufhielten. Wir hätten bis in alle Ewigkeit so beieinandersitzen mögen, eingehüllt in die Wärme gegenseitiger Anteilnahme, einer Wachheit für den anderen, die uns einander mit jedem Wort näherbrachte. Jeder Blick war eine Botschaft, jedes Schweigen eine Manifestation zunehmender Vertrautheit. Seit meinem ersten Date als Teenager hatte ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt.
Als das Kaminfeuer heruntergebrannt und auch die dritte Flasche Wein geleert war, schleppte uns Prinzessin Praline eine frisch erlegte Maus vor die Füße. Wir erwachten aus unserer Zeitblase. Mitternacht war längst überschritten, es ging schon auf den Morgen zu. Wo war die Zeit geblieben? Aber vor allem: Wo blieb Maybritt? Der Bauchtanz war seit vielen Stunden vorbei, und eine Kneipentour sei nicht ihr Stil, meinte Olaf beunruhigt. Er begleitete mich mit der Taschenlampe noch durch das Wäldchen bis vor unsere Haustür, strich mir über die Wange und flüsterte: »Schlaf gut, du Schöne !«, dann verschwand er in der Dunkelheit.
Ich atmete tief durch, bevor ich aufsperrte. Ich wollte diesem süßen Gefühl in meinem Herzen noch einen Augenblick nachspüren, bevor ich wieder in die Realität meines Alltags, in meine Ehe, zu meinem Mann zurückkehrte. Kater Luigi tauchte plötzlich neben mir auf, gefolgt von seinen eifrigen Brüdern. Jeder wollte als erster gestreichelt und wahrgenommen werden. Und damit war auch klar: Ich war wirklich wieder zu Hause, chez moi . Ich sperrte auf.
Drinnen stand mein Gepäck mitten in der Diele, wo ich es abgestellt hatte. Auch in der Küche, im Wohnzimmer war alles genau so, wie ich es vor acht Stunden verlassen hatte. Nur ich hatte mich verändert. Ich war jung. Das Haus wirkte seltsam leer auf mich, irgendwie tot. Vielleicht weil Runes Hausschuhe noch immer im Schuhregal standen. Ich stieg die Treppe hoch zu unserem Schlafzimmer, ein ungutes Gefühl begleitete mich. Im Schlafzimmer – kein Rune. Auch nicht im Bad, nirgends. Mein Herz pochte bis zu den Schläfen. Ich stürzte zum Telefon, wählte die vertraute Nummer von Maybritt. Olaf hob nach dem zweiten Klingeln ab. »Rune ist auch nicht da«, informierte ich ihn ohne Umschweife und versuchte, meiner Stimme das Panische zu nehmen. »Soll ich zu dir kommen?«, fragte Olaf, und ich antwortete sofort ja, ich würde schon mal einen Kaffee aufsetzen.
In dieser Nacht lösten wir das Rätsel nicht mehr. Aber es tat gut, im selben Boot zu sitzen, gemeinsam zu beratschlagen, ob wir am Morgen die Polizei verständigen sollten, zu überlegen, ob uns etwas Verdächtiges in den letzten Tagen aufgefallen war. Der Postbote brachte dann Klarheit. Ein Brief von Rune an mich, am Vortag um 14 Uhr an der Bahnhofspost abgestempelt.
Liebe Selma, las ich seine flüchtige Handschrift
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