Trips & Träume
vergangenen achtundvierzig Stunden war er tatsächlich aus dem Schlafanzug nicht herausgekommen, so viel stand fest. Sein dünner Körper zitterte, als die hereinströmende Luft den Raum mit spätsommerlicher Frische erfüllte.
Er setzte sich ans Klavier und spielte.
Ich erkannte es sofort.
Es war jene kleine Melodie, die er beim Festival im Duo mit Reed Isberg präsentiert hatte.
Aber irgendetwas daran war anders. Es war neu arrangiert und klang jetzt viel besser. Andi hatte leichte Veränderungen vorgenommen, hatte hier etwas weggelassen und dort etwas hinzugefügt. Diese schlichte Melodie ging jetzt sogar noch mehr ins Ohr.
Ich bekam eine Gänsehaut. So einfach und doch so beeindruckend, dachte ich. Die Emotionalität, die aus dieser Melodie sprach, war ganz anders als die abstrakten Jazzrock-Harmonien, die er sonst immer favorisierte.
Als der letzte Ton verklungen war, applaudierte ich spontan.
Seine müden Augen glänzten. »Du findest es also gut?«
»Du hast aus dieser Melodie einiges herausgeholt. Ich dachte immer, du schreibst nur so komplizierte Sachen. Aber das hier ist etwas völlig anderes. Da könnte was ganz Großes draus werden.«
»Hör auf, das ist Quatsch.«
»Ich finde, das ist das Beste, was du je geschrieben hast.«
»Na ja, so gut wie A Love Supreme ist es nicht.«
»Vergiss Coltrane mal für einen Moment und stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Das Ding ist der Hit.«
»Ich werde es verschenken.«
Ich war perplex. »Du musst diesen Song aufnehmen. Wenn er rauskommt, steht auf der Plattenhülle: This song is dedicated to ... So macht man das.«
»Du hast schon richtig gehört, ich will es verschenken. Das heißt, es gehört mir dann nicht mehr«, antwortete er.
Ich konnte es noch immer nicht glauben.
Verschenken, der hat sie doch nicht mehr alle. »Der Song könnte für dich die Eintrittskarte ins Big Business sein.«
»Ich habe das Lied für Karen geschrieben. Nun weißt du es. Ihr möchte ich es schenken.«
»Gerade deshalb solltest du es aufnehmen. Mit den Noten allein kann sie nichts anfangen. Höchstens einrahmen und an die Wand hängen.«
»Aufnehmen, das könnte ich bei Isberg in dessen Kellerstudio machen. Aber da steht nur das elektrische Piano, kein Klavier wie das hier.«
»Dann lass es Billy machen.«
»Kann der das überhaupt?«
»Hat er seinen Job beim Festival etwa nicht hervorragend gemacht, gab es da was zu meckern?«
Er zuckte mit den Schultern und zupfte verlegen an den Ärmeln seines Schlafanzuges.
»Billy hat einen Kunstkopf«, sagte ich. »Das ist ein ganz neues Verfahren für Musikaufnahmen.«
»Nie davon gehört.«
»Das Gerät gehört eigentlich nicht ihm, sondern seinem Onkel, der bei der BASF arbeitet. Es ist in Wien bei AKG entwickelt worden. Das Ding ist noch ein Prototyp. Damit kann man astreine Aufnahmen machen, sagt Billy.«
»Ich weiß nicht.«
An seinen Augen sah ich, dass er angebissen hatte. Er zickte nur noch ein bisschen rum.
Ich versuchte, es ihm weiter schmackhaft zu machen. »Vielleicht kann Billy das mit dem Kunstkopf auch hier bei dir zu Hause machen. Das Gerät passt in einen Koffer.«
»Dann ruf ihn an!«
»Jetzt?«
»Na klar!«
Andi deutete auf das Telefon, das auf dem Boden stand. Während ich mit Billy sprach, schaute ich mich um. Die Bude brauchte dringend eine Grundreinigung. Der Teppich war voll mit Papier, die Aschenbecher quollen über, auf dem Klavier standen zwei halbvolle Gläser mit roter Flüssigkeit, wahrscheinlich Wein. Als hätte ein kleines Gelage stattgefunden. Plötzlich ließ mich ein Gedanke nicht mehr los. Ich suchte in dem Chaos nach Anzeichen dafür, dass Karen vielleicht hier gewesen war.
Warum sollte er sonst ein Lied schreiben, zwischen denen lief doch was? Sie war bestimmt hier gewesen, da war ich mir auf einmal sicher. Hatte sie endlich herausgefunden, wem ihr Herz gehörte?
»Okay«, sagte ich ins Telefon und legte auf.
»Billy hat das Gerät noch, wir sollen ihn in einer Stunde abholen.«
»Eines musst du mir versprechen, ja?«
»Kommt drauf an.«
»Karen darf nichts davon erfahren.«
»Indianerehrenwort, ich halte die Klappe.«
»Hilfst du mir, die Bude auf Vordermann zu bringen?«
*
Andi drückte aufs Pedal.
Die drei Stoppschilder, die er übersah, waren ihm egal, ebenso die zwei roten Ampeln, und dass rechts vor links Vorfahrt hatte, sowieso. Einmal musste er an einem Zebrastreifen halten. Die Oma, die gerade hinüberging, war noch nicht auf der anderen Seite, da
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